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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Schlimmste gefasst. Dann trat ein adretter junger Mann mit Pomadefrisur und seidenen Hosenträgern vor, um ihm auf Jiddisch seine Dienste anzubieten. Max war dankbar für jede Hilfe, doch da ging ein anderer mit traurigem Bluthundgesicht und knittriger Kleidung dazwischen, der erklärte, dass der aufdringliche junge Bursche nur ein Opportunist war, dem es nicht um Max’ Schicksal ging. Er hingegen war die wahre Stimme der Unterdrückten. Wie zur Bekräftigung stellte er die ramponierte, mit Zwirn zusammengebundene Aktentasche ab, die er gerade noch an die fadenscheinige Weste gepresst hatte. Dann hakte er die Daumen in die schweißumrandeten Achseln und begann einen volltönenden Vortrag, der jedoch trotz wiederkehrender Schlagwörter wie »Speichellecker der Bourgeoisie« und »aufgeblasene Plutokraten« völlig an Max vorbeiging.
    Der Richter klopfte erneut mit dem Hammer, um den Anwalt zum Schweigen zu bringen, als eine kecke Stimme Max ins Ohr flüsterte: »Nischt gedejget, keine Sorge.« Sie würde sich um ihn kümmern. Als er sich umwandte, bemerkte er eine füllige Dame mittleren Alters, die einen scharfen Geruch nach Rosenwasser und Schweiß verströmte. Ihr Lächeln hatte etwas leicht Lüsternes, und ihre gelbrote Perücke türmte sich auf wie eine Zikkurat. Nachdem der Anwalt gezwungenermaßen verstummt war, meldete sie sich zu Wort und teilte dem Richter ihre Absicht mit, für das Greenhorn zu bürgen. »Geben Sie in meine Obhut den Jungen, und ich garantiere, wird er gut sich führen und sein Brot verdienen.« Um endlich mit Fällen von größerer Bedeutung fortfahren zu können, erklärte sich der Richter bereit, auf ihr Angebot einzugehen.
     
    Für Schmerl war unschwer zu erraten, was geschehen war: Der Zuschneider, der Vorhefter und der Appreteur waren zusammen mit den drei Näherinnen wie üblich früh im Geschäft seines Onkels erschienen und hatten wie üblich jedes freundliche Geplauder vor der Arbeit vermieden. (Geplauder wurde nicht gern gesehen und galt als Vorstufe zum Gewerkschaftssozialismus.) Alle legten ihre Mäntel ab, und die Näherinnen murrten leise, dass nur eine Maschine betriebsbereit war. Dann wurden auch die anderen Maschinen heruntergelassen, und sie machten sich an die Arbeit. Die käsige Pearl Voronsky setzte sich an Schmerls umgebaute Singer und fing sogleich an, einen Saum zu nähen. Über die Maschine gebeugt, schob sie den Stoff unter die Nadelstange und trat aufs Pedal, nur um festzustellen, dass dieses sich, angetrieben von dem einfachen Reibradmotor, den Schmerl angebracht hatte, von allein weiterbewegte. Rasend ratterte die Nadel, das Schiffchen flog automatisch hin und her, der provisorische Keilriemen rotierte immer schneller. Dann verfing sich eine lose, mattbraune Haarsträhne in dem Mechanismus und wurde im Doppelsteppmuster auf den Stoff genäht, während Pearl mit jedem Ticken der Nadel näher an die Stichplatte gezerrt wurde. Schließlich war ihr Kopf auf gleicher Höhe mit der Metallplattform, als wollte er sich vorlehnen, um ein Geheimnis zu hören, und es riss ihr mit einem hässlichen Plopp die Haut vom Schädel. Stark blutend stieß sie schrille Schreie aus, und im Salon brach allgemeines Chaos aus. Erst dieser Lärm weckte Schmerl, während ein Tritt seines Onkels in den Hintern, der wie üblich nach der Ankunft der Arbeiter aufgetaucht war, diesen Zweck nicht erfüllt hatte. Über Seinwels haariger Knollennase gruben sich tiefe Furchen in die Stirn. Für ihn stand außer Frage, wer für diese Katastrophe verantwortlich war, schließlich hatte man ihn vor Schmerls unberechenbaren Umtrieben gewarnt und ihm nahegelegt, auf der Hut zu sein. Und Schmerl stritt es auch nicht ab. Ohne Protest nahm er das Schnellurteil seines Onkels an und ließ sich, nachdem ihm die finster dreinblickende Tante Dobeh seine Tasche gereicht hatte, zum Teufel jagen.
    Draußen auf der Straße war es Winter, und hohe, rußgepfefferte Schneehaufen türmten sich auf. Wohnungslos und ohne Geld überdachte Schmerl seine Lage. Er konnte sich bei Messrs. Westinghouse and Edison vorstellen. Über ihre neuen Patente wurde fast täglich im Forverts berichtet, denn das Blatt hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seine Leser nicht nur über politische, sondern auch über wissenschaftliche Revolutionen zu unterrichten. Detailliert wurden dort die arbeitsparenden und freudespendenden Apparate beschrieben, die diese neuzeitlichen Prometheuse in rascher Folge erfanden. Bestimmt konnten diese

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