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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Ventil. Wenn er mit dem Bügeleisen über ein Kattunmuster fuhr oder mit dem Lastenaufzug einen Eimer Kohlen heraufschaffte, fragte er sich: Was würde wohl passieren, wenn man die Nähmaschinen zum Beispiel an einen einzigen riesigen Dynamo anschließen würde? Im Getto gab es Tausende solcher Ausbeuterbetriebe, in denen bleiche Arbeiter mit freudloser Beharrlichkeit ihre Tretkurbeln bedienten; doch all diese Anstrengungen blieben an den Ort gebunden. Eine Zusammenlegung der Maschinenleistung stellte eine potenzielle Kraftquelle dar, mit der zumindest Manhattan Island elektrifiziert werden … und vielleicht sogar dieses moderne Babylon in ungeahnte Höhen wachsen konnte.
    Schmerl ermahnte sich, dass diese Gedanken töricht und gefährlich waren, aber er konnte seine Unzufriedenheit nicht mehr im Zaum halten. Eines Nachts, als er in seinem Lumpenlager vor dem Kaminofen lag, raubten ihm seine ungezügelten Fantasien den Schlaf. Trotz der Kälte, die die Stadt fest im Griff hatte, hing in der Wohnung der säuerlich-muffige Geruch der Arbeiter. Als sein Blick auf die Maschinen fiel, fand Schmerl, dass er sich mit seiner langen Knechtschaft einen Feiertag verdient hatte. Nicht dass er einen besonderen Ort aufsuchen wollte, zumindest nicht auf diesem Planeten, da seine Fantasien schon immer nach jenseitigeren Gefilden gestrebt hatten. Doch in seinem Kopf bahnte sich ein Gewitter an, und er sagte sich, dass ein kleines Experiment den Gang des Universums wohl kaum stören konnte. Sosehr er sich auch gegen diesen unreinen Impuls stemmte, letztlich erlag er der Verlockung. So erhob er sich nach Mitternacht und stahl sich aus der Wohnung, um in seiner dünnen Jacke dem Wind zu trotzen und sich zum ersten Mal seit seiner Ankunft in New York über die Rivington Street hinauszuwagen.
    Überraschend für ihn war, dass die schlaflose Stadt selbst zu dieser frühen Stunde für einen Spaziergang weniger bedrohlich wirkte als ihr Anblick durch ein staubverschmiertes Fenster im zweiten Stock. Als er an den rund um die Uhr geöffneten Kaffeehäusern, den Tanzschulen und den Ständen vorüberkam, auf denen sich Fische türmten wie abgeschnittene blaue Blitze, war Schmerl so abgelenkt, dass er beinahe sein Vorhaben vergaß. An einer Ecke verbreitete sich ein Straßenredner vor einem imaginierten Publikum über die Sünden der untätigen Reichen; ein Puppenspieler ließ eine Zigeunermarionette um einen Lichterkreis laufen; neben einer Plakatwand versammelte sich ein Grüppchen Chassidim, um den Neumond zu segnen. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, klapperte Schmerl die Baustellen und Schuttplätze zwischen den Wohnhäusern ab und freute sich, wie leicht die Aluminiumstücke, Kupferdrähte und Eisennägel zu finden waren, die er für seine Konstruktion benötigte. Zurück in der Wohnung, blies er sich auf die steifen Finger, dann zog er aus seiner Reisetasche den Elektromagneten samt Alkalibatterie, der ihn auf der langen Fahrt übers Meer begleitet hatte. Der Magnet und das Buch der Wunder waren die einzigen Spuren seines Lebens in der alten Heimat.
    Im Grunde war das Ganze recht einfach. Zu Hause in Schpinsk hatte er ehrgeizigere Vorhaben verwirklicht, und der reich mit Präzisionsinstrumenten ausgestattete Werkzeugkasten seines Onkels ließ keine Wünsche offen. Doch als er den Mechanismus zusammengebaut und ihn mit einem um das Schwungrad geschlungenen elastischen Riemen an den verschnörkelten Streben einer Tretkurbel befestigt hatte, war Schmerl zu müde, um sein Experiment zu Ende zu führen. Draußen herrschte Dunkelheit, und bestimmt waren es noch Stunden bis zur Morgendämmerung; die Zeit reichte für ein kleines Nickerchen, um dann mit frischen Kräften zu prüfen, ob die motorisierte Singer funktionierte. Eingelullt von süßer Spannung, kroch er in sein Lumpenlager, ohne zu bemerken, dass die grauen Schatten am Fenster bereits einen blassgelben Stich bekamen. Dann döste er ein und sah eine Schar abgerissener Lohnsklaven, die auf ihrem Weg zu himmlischen Häfen mit ihren Maschinen über das Antlitz des Mondes fuhren. Er erwachte von lauten Schreien, und erst später, nachdem ihn die Ojsers hinausgeworfen hatten, konnte er sich die Ereignisse zusammenreimen.
     
    »Juden, gebt zdoke«, trällerte ein alter Mann mit wallendem Bart und spiralförmigen Schläfenlocken unter einer Markise auf der Christie Street. »Für die Gerechten von Palästina, gebt chaluke, eure Pennys für die Notleidenden in Jerusalem …« Seine

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