Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
Vom Netzwerk:
wagemutigen Männer einen Burschen mit Schmerl Karps Talenten gebrauchen. Doch das jüngste Fiasko hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Völlig zerknirscht nahm Schmerl Anstoß an der Vorstellung eines säkularen Fortschritts, der offenbar nur ins Unglück führte. »Welcher Platz bleibt in dem Goldenen Land für ein technisches Genie, woß hot abgeschworen der Technik?« Nachdem er die Frage laut ausgesprochen hatte, schämte er sich sogleich für sein Selbstmitleid. Sosehr er bedauerte, dass seine galoppierende Nähmaschine einer Unschuldigen Schmerzen zugefügt hatte, Schmerl war froh, der Rivington Street den Rücken kehren zu können. Gleichzeitig geschah es ihm wohl recht, dass er jetzt so arm war. Allerdings packte ihn eine gewisse Erregung bei der Erinnerung an Scholem Alejchem Motl Pejse, das glückliche Waisenkind, dessen Abenteuer in jiddischen Tageszeitungen in Fortsetzungen veröffentlicht wurden. Überall um ihn herum summte das amerikanische Leben, das er immer noch nicht gutheißen konnte, doch auch wenn es den Straßen an Heiligkeit gebrach, er musste zugeben, dass sie reichlich Dramatik und Spektakel boten.
    So erquickt fühlte er sich von dem Geschehen im Viertel, dass er einen Tag und eine Nacht lang herumwanderte, ehe er merkte, wie müde und hungrig er inzwischen war. Überall wurde man von Hökern und Werbern, die sich die Hände über Aschentonnenfeuern wärmten, herbeigewinkt, aber die Straßen übertrafen selbst die beredtesten Verlockungen. An einem Bücherstand riss ein arroganter Händler einem potenziellen Käufer einen Band weg und ließ ihn wissen, dass das »nichts für dich« war, während oben auf einer Feuertreppe ein deckenumhülltes Wunderkind eine traurige Rhapsodie auf der Geige spielte. Ein Schreiber mit Farnbart hockte auf einem Eimer und bot an, Grüße an die Vorfahren zu schicken, »die, schwöre ich, riechen nach Jesaja«. Aus einem Kellerverlag jagte ein Lokalredakteur, der mit der herabfallenden Asche seiner Zigarre die an ihm hängenden Telegrafenstreifen in Brand gesteckt hatte.
    Dies waren Attraktionen, die sich Schmerl leisten konnte, wohingegen ihm selbst für die billigste Kaffeehauskost das Geld fehlte - eine Tatsache, an die er sich wieder erinnerte, als seine Augen und (von der Kälte ganz tauben) Ohren gesättigt waren und sich sein Magen machtvoll zurückmeldete. Dann erbat er mit klappernden Zähnen in einer Mission an der Canal Street eine Schüssel Suppe, die nach Lösungsmittel schmeckte, und erkundigte sich in dem Kauderwelsch, das er sich in den Wochen bei seinem Onkel angeeignet hatte, nach einer Arbeit. Er wusste, dass es im Getto die verschiedensten Unternehmen gab: Gießereien, Werkzeugbauer und natürlich haufenweise Kleiderfabriken. Aber Schmerl hielt es für das Beste, die Finger von Maschinen zu lassen, und von der Lumpenindustrie hatte er für den Rest seines Lebens die Nase voll.
    Zwei glücklose litwakeß in der Mission, die sich gegen eine finanzielle Entschädigung hatten taufen lassen, zwinkerten sich vertraulich zu, während sie ihn berieten. Nachdem er Schmerls missgebildete Gestalt wahrgenommen hatte, bemerkte der Gesprächigere der beiden: »Ist eine Stelle vielleicht, für die ist er geboren.« Er kritzelte eine Adresse an der Pitt Street auf einen Schmierzettel. Nur wenige Straßen weiter bemerkte Schmerl bei der entsprechenden Hausnummer eine kleine Gruppe von Männern, die vor dem Tor zu einem Wagenhof auf und ab stapften und sich die Hände rieben, um den Kreislauf anzuregen. Dem Greenhorn fiel es nicht schwer, sich in diesen Tanz einzureihen. Gegen Mitternacht öffnete sich quietschend das Tor von Levine’s Mietstall, und der graue alte Reb Levine zeigte sich persönlich in seinem schäbigen Mackinaw. Ohne lange Umschweife zählte er die Leute und forderte sie in einer Mischung aus shargon und Englisch auf, sich in einer Reihe aufzustellen. Die bunte Ansammlung, zu der unter anderem zwei verängstigte Neger und ein Chinese in Windjacke gehörten, schien vertraut mit dem Ablauf und bildete eine Schlange, um sich von dem zahnlosen Unternehmer mit langstieligen Schaufeln ausstatten zu lassen. Schmerl schloss sich an und fragte den Burschen vor ihm, dessen Mützenschirm über ein Auge gezogen war: »Woß wir machen?« Worauf er in irischem Singsang zur Antwort bekam: »Wir sind Nachtkehrer.« Schmerl hatte zwar nichts verstanden, hatte aber den Eindruck, an einem geheimen Ritual teilzunehmen.
    Der Wagen, an dessen hinterer Achse

Weitere Kostenlose Bücher