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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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zum Verstreuen auf Leichen verkaufte und Überweisungen für die heiligen Juden von Palästina erflehte. Doch all diese Masken kamen erst zum Einsatz, als er mit seinem Schwur auf Wachsamkeit und Heimlichkeit kläglich gescheitert war.
    Nachdem er am ersten Abend nach seiner Ankunft mit bleiernen Knochen, niedergeschlagen und völlig ausgehungert durch die engen Gassen um die Division Street und den East Broadway geirrt war, hatte sich Max von einem Stand eine einzelne Orange geschnappt. An diesem ersten Diebstahl seines Lebens war nicht allein sein Hunger schuld, sondern auch die hypnotische Faszination, die von der ihm unbekannten Frucht ausging. Er wurde auf frischer Tat ertappt. Der Gemüsehändler, dessen verhutzelte Gestalt von seiner zähen Kraft Lügen gestraft wurde, packte den Dieb mit eisernem Griff am Handgelenk und ließ nicht mehr los. Er rief einen Streifenpolizisten, der dem Täter Handschellen anlegte und einen Arrestwagen mit Klepper heranwinkte, der Max in Schimpf und Schande zur viel benutzten Hintertreppe des nahe gelegenen Gerichtsgebäudes am Essex Market transportierte. Dort schleppten ihn zwei gingetränkte Wärter durch einen Gang und über eine klirrende Wendeltreppe in einen unterirdischen Zellenblock, der von den Schreien unsichtbarer Gefangener widerhallte. Hier schloss man ihn über Nacht ein. Die Steinzelle war einen auf gut zwei Meter groß und verfügte über eingebaute Eisenkojen und einen platschenden Dreckkübel, doch Max war so erledigt, dass er es als Trost empfand, zumindest ein Dach über dem Kopf zu haben. Sicher hätte er sogar geschlafen, hätte sein schlitzäugiger Zellengenosse nicht in einem unverständlichen Unterweltjargon mit seinen läppischen Betrügereien geprahlt und Vorwände gesucht, um Max zu berühren. »Früher, da hab ich immer den Stoß verschliffen, was die klein’ Blagen gemaust ham für Red Augie, der mit der quanten Vis …« Auf der oberen Pritsche liegend, hatte Max natürlich nicht die leiseste Ahnung, wovon da die Rede war, aber er zuckte jedes Mal zusammen, wenn ihm der Mann eine feuchte Hand auf die Schulter oder den Arm legte; und einmal, als Max vor Erschöpfung einnickte, wollte ihn der Ganove zwischen die Beine kneifen - ohne etwas zu finden. Max war so entsetzt - und auch der andere rief schockiert: »Du bist kein Mahl, du bist ein Maudel!« -, dass er die Kontrolle über seine Blase verlor, zumal er schon längere Zeit kein stilles Örtchen mehr hatte aufsuchen können. Beschämt über die Nässe und den folgenden Geruch, verletzt von den höhnischen Spekulationen seines Zellengenossen und ängstlich darauf bedacht, Jochebeds Empörung nicht freien Lauf zu lassen, lag er den Rest der Nacht zu einem kleinen embryonalen Ball zusammengerollt. Und obwohl er so lange nichts zu sich genommen hatte, verkraftete er am Morgen nur schwer den Anblick der Schüssel mit klebrigem Brei, die durch einen Schlitz in der Tür geschoben wurde. Aber wegen seines geschwächten Zustands zwang er sich, das Zeug hinunterzuschlingen, ohne an die religiösen Speisegesetze seiner Heimat zu denken, die er ohnehin schon längst aufgegeben hatte.
    Wenig später auf der Anklagebank begriff er nichts von den Vorgängen. Der Gerichtssaal war ein Zirkus der Erniedrigten und Beleidigten. Auf den Rängen drängten sich in unbeholfener Verzweiflung Berufsverbrecher - Taschendiebe, Prostituierte, Brandstifter, Rossvergifter, billige Hochstapler -, Säufer und Landstreicher. In den Flügelfenstern lümmelten Gerichtsreporter; Boten arbeiteten mit halbseidenen Anwälten zusammen, die den braunen Kautabaksaft zwischen ihren Zähnen in Messingspucknäpfe spritzten. Niemand schien sonderlich auf den Richter zu achten, der mit pochendem Hammer Ruhe forderte und mit rotem Gesicht drakonische Strafen verhängte - zur Wassertropfenkur auf Blackwell’s Island, in die Tretmühlen an der Ludlow Street -, die eine Stenografin mit krummem Hals gewissenhaft in ihr Protokollbuch eintrug.
    Als Max an der Reihe war, erhob sich der Polizeibeamte, der ihn verhaftet hatte, und nannte das Vergehen des Einwanderers, doch in Abwesenheit des Gemüsehändlers, für den die Angelegenheit offenbar mit der Festnahme des Diebs beendet war, gab es keinen offiziellen Kläger. Dennoch wollte der Richter den Übeltäter nicht ungeschoren davonkommen lassen. »Bekennen Sie sich schuldig?«, fragte er, ohne sich um rechtliche Finessen zu kümmern. Max schüttelte verständnislos den Kopf und machte sich auf das

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