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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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eine Sturmlaterne baumelte, rumpelte hinaus auf die Gettostraßen, und die daneben marschierenden Männer machten sich daran, Pferdemist vom Boden auf die madenzerfressene Ladefläche zu schaufeln. Manchmal bildete die Scheiße feste Pyramiden, so wie aufgestapelte Kanonenkugeln, manchmal stand sie in schwankenden Koprolithen oder war auf dem Kopfsteinpflaster und den Straßenbahnschienen verstreut wie brüchiges Baiser. Wenn das Zeug auf der Schotterdecke lag, ließ es sich leicht aufladen und auf den wachsenden Berg schütten, doch häufig mussten die hartnäckigeren Brocken aus Ritzen und Löchern gescharrt und in den Wagen geschleudert werden wie Tontauben. Zwischen einzelnen Schaufelschwüngen zogen einige der Männer Steingutflaschen aus den Taschen ihrer Seemannsjacken und nahmen einen großen Schluck, um die Kälte abzuwehren. Torkelnd stimmten sie dann bisweilen ein sentimentales Lied an, und einige stürzten mit dem Gesicht nach vorn in den Schlick, wo man sie einfach liegen ließ. Obwohl er ohne geistige Getränke auskommen musste, fand Schmerl die Bewegung belebend und wärmend für die Knochen, und auch der Gestank der Exkremente war dank der frostigen Luft nicht schlimmer als das Aroma der Angst im Betrieb der Ojsers. Die zwei steifbeinigen Klepper, denen der alte Levine ständig gut zureden musste, zogen den Wagen bis zur Werft am East River, wo sein Inhalt auf eine Frachtwaage geladen und von dort in einen Müllkahn gekippt wurde. Der Skipper wechselte ein paar derbe Bemerkungen mit dem Unternehmer und händigte ihm seinen Anteil aus, während sich eine Schar spatzenähnlicher Bengel aus dem Schatten stahl und auf die Dreckhaufen sprang. Umkreist von kreischenden Seevögeln durchwühlten sie die Scheiße, um vielleicht noch etwas Brauchbares darin zu finden.
    Als der Nachtkarren gegen Morgen zum Wagenhof zurückkehrte, stieg Levine von dem knarrenden Gefährt ab, um den kärglichen Lohn an die Getreuen zu verteilen, die die Dungrunde überstanden hatten. Die Arbeiter zerstreuten sich in verschiedene Richtungen, bis nur noch Schmerl wankend in den schweren Dünsten stand und auf seiner aufgesprungenen Lippe kaute. »Woß is, bist du eingefroren?«, fragte der schlurfende alte Unternehmer den Neueinwanderer, der völlig offen erwiderte: »Weiß ich nicht, wo ich soll hin«, ehe er vor Erschöpfung zusammenbrach. Levine begutachtete ihn mit blutunterlaufenem Auge und knurrte, dass es ihn nichts anging. Doch weil er eine Schwäche für Tiere und Spinner hatte, ließ er sich erweichen. Er hob Schmerl auf und schleifte ihn zu einem undichten Schuppen aus Teerpappe, der zur Aufbewahrung von Sattel- und Zaumzeug diente. Dort konnte er schlafen. Und dafür, dass Schmerl die angrenzenden Ställe sauber hielt, die vogelscheuchenartigen Gäule tränkte und ihnen den Futtersack umhängte, das Schutzgeld im Hauptquartier der Schwarzen Hand hinter Sam Schnures Saloon ablieferte und Scheiße schaufelte, konnte er über den klapprigen Anbau verfügen. Außerdem (und abhängig vom wöchentlichen Tribut, der von der jüdischen Camorra erhoben wurde) erhielt er einen Lohn von rund zwei Dollar die Woche. Mit diesem Salär und den Kichererbsen und Kartoffelschalen vom Markt an der Hester Street - schließlich war er ein erfahrener Schnorrer - konnte Schmerl nicht nur über die Runden kommen und bei Kräften bleiben, sondern auch etwas für Notzeiten auf die Seite legen. In vielerlei Hinsicht war das Reglement im Wagenhof noch strapaziöser als im Ausbeuterladen seiner Verwandten, aber im Gegensatz zu diesem hatte es auch seine guten Seiten.
    Zum Beispiel verschlief Schmerl den Vormittag und widmete sich nach dem Aufwachen seinen Pflichten, die er meistens bis zum frühen Abend erledigt hatte. Die Zeit bis um Mitternacht gehörte ihm. Er schlenderte durch die Straßen, deren merkantiles Treiben allmählich schon einer vergnügteren Erholungsstimmung wich. Die Cafés füllten sich mit den Drohnen aus den Fabriken, die sogleich ihre Dumpfheit ablegten und sich in Dichter und Aufwiegler verwandelten. Zu ihnen zählten auch die in Künstlerkreisen verkehrenden jungen Damen in tulpenförmigen Ausgehröcken, deren sonst so verhärmte Gesichter plötzlich in öffentlicher und privater Leidenschaft erstrahlten. Während er sie durch die Fenster bewunderte, überlegte Schmerl, dass er viel mit diesen eifrigen jungen Leuten gemein hatte, denn auch er führte als drekschleper mit der Seele eines Träumers ein Doppelleben. Doch ihm

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