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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Stimme war ein wenig zu wohlklingend für sein ausgezehrtes Gesicht. Im nachlassenden Tageslicht klapperte er mit der puschke, die ihm als Sammelbüchse diente. Das Blech schepperte von Knöpfen und Nadeln, die Passanten in Ermangelung von Kleingeld hineingeworfen hatten, wahrscheinlich in der Annahme, dass etwas besser als nichts war. Hielten sie ihn wegen seines Alters für blind? (Allerdings war auch Blindheit schon in seinem Arsenal von Gebrechen aufgetaucht.) Schließlich hinterließ jemand eine echte Münze, und der Alte murmelte einen Segen, der kaum von einem Fluch zu unterscheiden war, ehe er sich gleich in der Nähe in einen zugigen Keller zurückzog, um die Tageseinnahmen zu zählen. Dort nahm er auch den falschen Bart und die Schläfenlocken ab, schälte sich den verkrusteten Kitt von Wangen und Nase und hängte den schlammbeschmierten Kaftan und den schtrejml ab, der einer babke aus Hermelinpelz glich. Er setzte sich an den Tisch, schüttete die Münzen und anderen Gegenstände auf das mit geronnenen Wachsflecken bedeckte Öltuch und begann mit schlanken Fingern, die aus zerfetzten Fäustlingen ragten, den lächerlichen Betrag zu addieren, den er gesammelt hatte. Max Feinschmeker, ehemals Jochebed Frostbissen, hatte allmählich die Nase voll von dieser Maskerade und sah bereits die Notwendigkeit, bald eine andere anzunehmen, zumal er einen solchen Wandel in diesem frostigen Winter schon mehrmals vollzogen hatte.
    In dem Kellerlager unter Tzotz’s Dairy Restaurant an der Delancey Street konnte er seinen Atem erkennen. Der Besitzer Tzotz hatte dem Bettler aus Mitleid gestattet, hier in Gesellschaft von Fässern mit eingemachtem Stör und Kübeln mit Sauerrahm zu nächtigen, bis er wieder (das war seine Geschichte) ins Heilige Land zurückkehrte. Im Verlauf der langen Wintermonate hatte er in den verschiedensten Kellern, Drei-Cent-Quartieren und Arrestzellen geschlafen und immer wieder die Verkleidung gewechselt, um sich seinen Häschern zu entziehen. Da er sich in keiner Inkarnation sicher fühlte, hatte Max ein Dutzend Rollen ausprobiert und sie etwa eine Woche durchgehalten, bevor er sich endgültig von ihnen trennte. Diese Strategie fand er recht vernünftig: Ehe sich seinen Feinden die Gelegenheit bot, ihn in einer Vermummung zu enttarnen, war er schon in die nächste geschlüpft. Allerdings mäkelte Jochebed bisweilen, dass er mit dem Annehmen und Ablegen dieser Fassaden nur die vergebliche Suche nach seinem wahren Selbst überspielte. Außerdem lag sie ihm ständig damit in den Ohren, dass er die Suche nach Rabbi Elieser ben Zephir in seinem zinkversiegelten Sarg fortsetzen sollte. Alles andere schien ihr unwichtig.
    »Sind wir allein und hobn nicht mal einen Nachttopf«, lautete Max’ übliche Antwort, die er manchmal sogar in Gegenwart von Passanten laut vor sich hin murmelte. »Sind hungrig und schmutzig, und selbst wenn ich hätte den groschn für a schwiz-bod, kann ich nicht, weil ich muss Angst hobn, dass sie mich erkennen - und du kannst nur denken an einen Leichnam in Eis?«
    »Is er kein Leichnam«, erwiderte Jochebed aus Max’ Mund, und er kam sich vor wie die Puppe eines Bauchredners.
    »Was dann?«
    »Schläft er bloß.«
    Daraufhin schlug sich Max mit dem Handballen gegen die Stirn. »Farwoß? Warum warum warum der alte kaker is er so wichtig für dich?«
    An dieser Stelle hüllte sich Jochebed stets in Schweigen, als verstünde sich die Antwort von selbst. Das einzig Verständliche für Max daran war, dass er nichts verstand. Doch jenseits dieser Meinungsverschiedenheiten waren sie sich darin einig, dass er Pisgats Drohung nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.
    Zuerst hatte er in Erwägung gezogen, vorübergehend wieder zur Frau zu werden - das wäre die praktischste Lösung gewesen. Aber Jochebed wollte nichts mit sich zu tun haben und war auch nicht bereit, in eine andere weibliche Rolle zu schlüpfen, weder Jungfrau noch bale-boßte. Max konnte sie nicht überreden. »Willst du nicht du selbst sein«, klagte er, »aber stichelst du gegen mich, weil ich in Kostüm bleibe.« Auch darauf schwieg sie vielsagend. Und so blieb Max Feinschmeker inkognito als Ig Smolensk, der Neuankömmlinge vom Schiff begrüßte und einen Obolus für eine imaginäre landßmanschaft erbat, als Chaim Furt, der wegen einer seltenen und entstellenden Hautkrankheit auf Almosen angewiesen war, oder als Reb Izik Salpeter (manchmal mit dem schmückenden Beinamen »der Blinde«), der Erde aus Jerusalem

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