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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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fehlte das Selbstbewusstsein, um sich unter sie zu mischen. Außerdem war auch die Versuchung eine Form der Götzenverehrung - das sagte er sich wenigstens, ehe er sich endgültig von den Cafés und Tanzhallen abwandte, um sich mit der Mannschaft der Nachtkehrer zu treffen.
    Einmal wagte sich Schmerl, einsam und erfüllt von einer Sehnsucht, die er nicht benennen wollte, bei einem Spaziergang in der Dämmerung bis in die Bowery, wie immer erstaunt darüber, dass er innerhalb weniger Straßenzüge so viel von der Welt entdecken konnte und dass er kein abgestempeltes Dokument oder Visum benötigte, um von einem Viertel zum anderen zu wandern. Er befand sich wirklich in einem Babel; allerdings war ihm die Fähigkeit abhanden gekommen, es zu verurteilen. Täter und Opfer gleichermaßen erschienen ihm wie die natürlichen Bewohner einer urbanen Welt, so wie auch die Grenze zwischen Geist und Fleisch in diesem Winkel des Globus praktisch verschwand. Die Ladenkapelle schmiegte sich an das Stundenhotel, die Austernbar an das jiddische Theater, unter dessen glühlampenumrankter Markise sich eine Schar Chassidim versammelt hatte, um gegen die Gräuel drinnen zu wettern. Zwischen einem Varieté und einer Schießbude, über die die Hochbahn donnerte, befand sich eine gasbeleuchtete Fassade, über deren Eingang ein dreifaches, kunstvolles M gemalt war: das Museum of Miracles and Misfits, Einlass bescheidene zehn Cent. Sicherlich war es eine Verschwendung, für so etwas einen ganzen Dime auszugeben, wo es schon auf der Straße so viel Staunenswertes gab. Doch angelockt von den grellen Monstrositäten, die auf den Bannern vor dem Gebäude abgebildet waren, reichte Schmerl dem Mann am Schalter eine Münze und trat ein.
    Drinnen erstreckte sich ein großer, mit Gaslampen beschienener und mit billigen Teppichen behängter Saal, in dem es nach Erdnüssen oder Darmwinden roch. Dort saßen menschliche Kuriositäten neben einer Wasserpfeife oder einem Grammofon auf erhöhten Lamettathronen. Einer dicken Dame fiel das vielfache Kinn gletscherartig auf die bündelgroßen Brüste, und unter ihren leicht angehobenen Bühnenröcken lugte ein Junge mit Leopardenflecken hervor. Außerdem gab es ein lebendes Skelett mit Käsestangenknochen, das bärtige Mädchen, das als »kleiner Esau« angepriesen wurde, ein Paar wilder patagonischer Kinder, die das Bindeglied zwischen Orang-Utan und Mensch darstellen sollten. Ein Riese in Uniformrock hielt einen genauso gekleideten Zwerg auf der Handfläche; die am Hintern zusammengewachsenen siamesischen Zwillinge Liesl und Elise zeigten bereitwillig ihre Nahtstelle, ohne dabei gegen Anstand und Sitte zu verstoßen (wie der vornehme Ausrufer den Familien versicherte). Ein Indianer mit lederner Haut behauptete, sich an Captain John Smith zu erinnern.
    All diese Gestalten waren ein wenig beunruhigend, aber nicht wegen ihrer Abnormität, sondern wegen der Offenheit und Bereitwilligkeit, mit der sie ihre ungewöhnliche Geschichte mitteilten. Verstörender als die atmenden Merkwürdigkeiten waren für Schmerl jedoch die unbelebten: die abscheuliche sogenannte Meerjungfrau, die in einem Glas Formaldeyhd schwebte, der Schrank mit dem Kopf des Attentäters von Präsident Garfield, der vierbeinige Hahn, der in einem Eisblock gefangene Mann.
    Der Ausrufer, ein angeheiterter Herr in angestaubtem Frack, nannte sich Professor Nimrod. Mit zusammengekniffenem Auge hielt er ein Monokel fest und erklärte die Attraktionen, die nicht für sich selbst sprechen konnten. Doch obwohl er ausführlich ihre Echtheit beteuerte, blieben die eingelegten Exponate - die »Meerjungfrau«, die einer Mischung aus Fisch und Seidenaffe glich, der Greis, der in seinem grün wie ranzige Milch verfärbten Eisklumpen kaum zu erkennen war - bei den Zuschauern weniger beliebt als die lebenden und eloquenten Absonderlichkeiten. Trotzdem fand Schmerl die hochtrabenden Erläuterungen des Professors durchaus überzeugend und fesselnd: »Dieses gefrorene Phänomen ist der einzigartige Fall eines en glace - wie eine Fliege in Bernstein - konservierten israelitischen Magiers aus dem Mittelalter, der vom Fluch eines feindlichen Zauberers getroffen wurde …« Wenn man angestrengt in das trübe Eis spähte, das an den Rändern der umschließenden Bretter dünner wurde, konnte man die Umrisse eines Barts und eines Kaftans mit Gürtel, den Gebetsmantel und den vornehmen schtrejml eines Rabbis oder Heiligen erkennen. Und dann noch der aufgestellte, halb

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