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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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herbeigestürzt war und ihn am Kragen gepackt hatte - in eine kleine Seitengasse geschleift.
    Schmerl hatte die Entführung nicht als Einziger beobachtet; auch andere Menschen hinter ihren Ständen sahen, wie dem jungen Mann der Mund zugehalten wurde und wie er sich gegen die Angreifer wehrte. Aber während die anderen wieder ihren Geschäften nachgingen, sobald der unerfreuliche Anblick außer Sicht war, erkannte Schmerl in dem Ereignis den schicksalhaften Moment, auf den er gewartet hatte. Im Bewusstsein der Stärke, die sein gebückter Körper mithilfe von Bügeleisen und Dungschaufeln erworben hatte, straffte er die Schultern, so gut er es vermochte, und zog aus seinem Spazierstock einen dünnen Metallstab. »Schem ha-mephorasch!«, rief er laut. So lautete der Name des Zauberhuts von Moses, der im sefer schekel ha-kodesch erwähnt wurde. Ein anderer hebräischer Schlachtruf fiel ihm nicht ein. Im Zickzack querte er den dichten Verkehr auf der Delancey Street und stürmte in die Seitengasse, wo er sogleich blind ins Zwielicht stocherte. Der Viehtreiber, den er nach dem Modell des Aaronstabs entworfen hatte (ein Stock, der zubeißen konnte wie eine Schlange), zitterte wie ein Florett in seiner Hand. Er hatte ihn mit einem Auslöser versehen, der eine Sechsvoltladung aus einer Kohlebatterie zum Platindorn an der Spitze schickte. Das Gerät war dazu gedacht, die Pferde im Wagenhof zur Räson zu bringen, aber sie waren so brav, dass er noch keine Gelegenheit gefunden hatte, es auszuprobieren. Dies war also die Premiere für seine Erfindung, und nach den Reaktionen der Angreifer zu urteilen, funktionierte sie tadellos - vor allem nachdem sich Schmerls Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten und er seine Stöße gezielter führen konnte. Der Riesenkerl und der Mützenträger jaulten, als wären sie in ein Nest von Zitteraalen gestürzt. Der eine ließ den Totschläger, der andere die nackte Klinge fallen, um die Hände an schmerzende Körperpartien zu drücken - beide von der gebeugten Gestalt wohl mindestens genauso schockiert wie von der stechenden Waffe.
    Nachdem er die zwei Angreifer vorübergehend außer Gefecht gesetzt hatte, steckte Schmerl den Stab weg, um dem Opfer auf die Beine zu helfen und es aus der Gasse zu drängen. Taumelnd folgte der junge Mann vom Schiff seinem Retter. Er hielt sich die Stirn, und durch seine Finger sickerte ein dünner Blutfaden. Mit dem Spazierstock in einer Hand zog Schmerl den Jüngling am Arm auf die Delancey Street, von der er nach kurzer Strecke abrupt in eine andere Gasse abbog. Zusammen schlüpften sie durch enge Passagen voller Pfützen, überquerten hier und da laute Straßen und tauchten sogleich wieder ein in das Gewirr von Winkeln und Gassen. Schließlich gelangten sie auf ein leeres Grundstück, übersät mit Müll und Bettgestellen, die man in der Hoffnung, dass die Sonne die Wanzen herauslocken würde, nach draußen gezerrt hatte. Das Grundstück war von einem hohen Holzzaun umgeben. Schmerl schob ein Brett beiseite, um seinen Freund - war es verfrüht, ihn sich als Freund vorzustellen? - in den Wagenhof des alten Levine zu schieben. Erleichtert atmete er die stinkende Luft und lud den Jüngling in seine Baracke ein. Dort setzte er ihn auf ein Bett mit Pferdedecken, das mit einem System aus Seilrollen und Gewichten von der Decke herabgelassen wurde. Nachdem er eine Lampe angezündet hatte, machte sich Schmerl ohne Zögern daran, die Verletzung seines Gasts zu versorgen. Zum Glück war es nur eine leichte Abschürfung über einer dicken Beule am kop.
     
    Max hielt sich vor Schmerzen den Schädel und schob es auf seine Benommenheit, dass das Mobiliar in dem bescheidenen Quartier seines Gastgebers in der Luft zu schweben schien. Tisch und Stuhl, Ofen, Werkbank und Donnerbalken - alles schwirrte über ihnen zwischen baumelndem Zaumzeug, als würde es darauf warten, dass der Bewohner des Schuppens sich ebenfalls in die Höhe schwang. Während ihm sein Retter einen faulig riechenden Umschlag auf die Stirn presste, den er in einem Porzellanbecken hergerichtet hatte, wunderte sich Max zudem über die Schnelligkeit, mit der er von den Gettostraßen in diese Klause gezaubert worden war. Aber da der Anblick ungewöhnlicher Orte nichts Neues mehr für ihn war, zweifelte er nicht daran, dass er sich noch in der Nähe des Gettos befand. Angesichts der Umstände war es wohl angemessen, sich diesem merkwürdigen Menschen vorzustellen, der ihm immerhin das Leben gerettet hatte. Doch

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