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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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allerdings nachsann, welche Fähigkeiten er dafür in die Waagschale werfen konnte, fiel ihm nicht viel ein. Immerhin konnte er Eiscreme machen, oder? Allein, Jochebed blieb eisern in der Ablehnung eines Berufs, der zu ihrem Fall geführt hatte. Und dass Max das Talent zum Diebstahl fehlte, hatte er ja bereits bewiesen. Selbst die Möglichkeit, eine einfache Hilfstätigkeit anzunehmen, bot ihm keinen Trost, denn mit dem allzu langen Verbleib in einer Stellung setzte er sich unweigerlich der Gefahr der Entdeckung aus.
    Andererseits spürte Max trotz der Kälte und seiner Nöte auch neue Kräfte; er hatte einen vollen Bauch, und die alten Gewänder des verschollenen Ehemanns - der gefütterte Mantel und die zu große Melone, die seine Ohren spreizte - boten ihm einigermaßen Schutz gegen die Elemente. Entgegen seiner besseren Einsicht fasste Max auf einmal wieder die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden würde. Vielleicht würden Pisgats Handlanger ihn nie entdecken auf dieser Seite des Atlantiks und in diesem ruhelosen Viertel, wo alle danach strebten, sich neu zu erschaffen. Und vielleicht hatte der alte Halsabschneider nur leere Drohungen ausgestoßen und sich auf die Leichtgläubigkeit seines Gegenübers verlassen. Es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich einem feinen Burschen wie Max keine Chancen boten!
    Plötzlich tauchte neben ihm der Kerl mit der umgedrehten Golfmütze und den schäbigen Knickerbockern auf, der aussah, als wäre er für ein Turnier im gehenem gekleidet. »Hoßt du so ein hübsches Gesicht, musst du einfach Max Feinschmeker sein. Mein Onkel Salman, is er nicht sehr erfreut, dass du ihm nicht geschickt hoßt doß Geld.«
    In einem einzigen Augenblick schrumpfte die große Neue Welt zur Größe des Balut, und Max begriff genau, was vorgefallen war: Dieser Halunke mit den trägen Augen hatte ihm von Anfang an aufgelauert, aber statt dafür zu sorgen, dass Max das Geld vereinbarungsgemäß an den alten Eismenschen überwies, hatte er es selbst gestohlen und Max die Schuld zugeschoben. Und jetzt war er wieder aufgetaucht, um die Sache zu Ende zu bringen - schließlich wollte Pisgat, wenn er schon kein Geld sah, wenigstens Rache nehmen.
    Erfüllt von einem Fatalismus, der seine Angst fast neutralisierte, erwiderte Max: »Warum du hoßt ihm nicht selbst geschickt doß Geld?«
    »Wer, ich?« Der Galgenvogel mimte den Beleidigten. »Weiß ich, woß passiert is mit dem Geld von meinem Onkel? Vielleicht hoßt du es verloren bei dem Glücksspiel? Lasst ihr euch so leicht rupfen, ihr Greenhorns. Schtrudel …« Er nickte in die Richtung eines bulligen Kumpans, der auf einmal links von Max stand. »Is doß nicht der, woß is abgehauen mit dem gelt von Onkel Salman?«
    Max wartete nicht auf Schtrudels Antwort. Angetrieben von Jochebeds Erinnerung an Überfall und Entführung, schüttelte er die nach ihm greifenden Hände ab und stürzte davon. Eine Ecke weiter tauchte er in die erstbeste Seitengasse ein, an deren Ende er auf einen Lattenzaun stieß. Panisch vor Angst kletterte er hinüber und landete auf der anderen Seite in einem ungepflasterten Hof. Ohne sich umzusehen, warf er sich über eine niedrige Ziegelmauer, überquerte einen weiteren Hof und ließ abermals einen Zaun hinter sich, bis er sich schließlich in einer anderen Gasse wiederfand. Diese mündete in eine verwinkelte, nach dem Fluss stinkende Straße, in der einige phlegmatische Bewohner wie teraphim auf ihren Holztreppen hockten. Die Schieferdächer der schmalen Häuser strebten verschwörerisch zueinander, sodass nur ein Minimum an Sonnenlicht eine kleine Gruppe von Fußgängern erreichte, die beharrlich dahinstapfte. Auffallend an ihnen war, dass sie alle Behinderungen hatten. Ein Mann mit nur einem Bein schwang sich auf einem Paar Krücken dahin wie ein flüchtiges Pendel; ein zweiter mit Opernumhang und getönter Brille fuchtelte mit einem Rattanstock herum. Aus einer kleinen Gasse kam eine mit einem Wolltuch verschleierte Frau. Sie schleppte einen Karren, auf dem ein vierfach Amputierter saß. Sein Gesicht war wie ein Bug, sein Rumpf wie ein dicker, mit Orden geschmückter Kegel. Sie alle strebten zu einem baufälligen Ziegelhaus mit blechverkleideter Tür ohne Namensschild.
    Wohin auch immer es diese armen Seelen zog, Max vermutete, dass es ein Ort war, den kein gesunder Mensch betreten würde, und so folgte er ihnen. Als er hinkam, brachte er gerade noch einen Fuß in die Tür, ehe sie zufiel. Schnell schlüpfte er hinein

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