Der gefrorene Rabbi
Akklimatisierung erleichtert hatte, beispielsweise mit Fernsehsendungen wie Nur wenige haben Glück (in der sich wohlhabende Teenager wegen überzogener Kreditkarten abquälen) oder Amerikas lustigste Heimvideos (in der sich Kinder vor laufender Kamera an ihren Haustieren vergreifen). Vor diesem Hintergrund war Bernie ein weiteres Mal aufgebrochen, um den rebbe um eine Audienz zu bitten und ihm Fragen zu stellen, die er noch gar nicht fertig formuliert hatte.
Die Idee, für seine bar mizwe mit dem Boibiczer Wunder zu studieren, hatte er inzwischen aufgegeben. Nicht dass er meinte, über dem Gesetz zu stehen; niemand stand über dem Gesetz. Doch während er seine Erforschung heiliger Schriften fortsetzte, musste Bernie gegenüber Lou bekennen, dass er das Rituelle nicht als unerlässlich betrachtete. In seinem Alltag bemühte er sich, die Gebote des schulchan aruch einzuhalten, und er hatte auch nichts dagegen, sein Leben anhand strenger Regeln zu organisieren. Aber die mannigfachen Erfahrungen, die ihm zur Verfügung standen, lenkten den Jungen in eine weniger dogmatische Richtung. Der Buchstabe des Gesetzes, so räumte er ein, wurde bisweilen von dessen launischem Geist verdrängt. Weil ihn seine Unbeständigkeit (wie Lou Ella es nannte) manchmal bedrückte, wusste Bernie nicht genau, wo seine Verantwortung lag. Sicher konnte ihm der rebbe dazu etwas sagen.
Allerdings hatte sich Rabbi ben Zephir, wenn man den Zeitungen Glauben schenken konnte, über jeden Wert hinweggesetzt, den er nach eigenem Bekunden verkörperte. Bernie wusste inzwischen genug über verrückte Weisheiten und die verschlungenen Pfade, auf denen geschickte Meister ihre Schüler zur Erleuchtung führten, um zu begreifen, dass der rebbe gute Gründe dafür haben musste. Dennoch betrübte es ihn, dass sich der zadik durch seine Berufung so weit von der Sphäre ihrer ursprünglichen Vertrautheit entfernt hatte. Ihm war klar, dass Elieser ben Zephir der Welt gehörte und wenig Zeit für private Beziehungen hatte. Dennoch, so glaubte er, konnte er den großen Mann vielleicht unter Berufung auf ihre gemeinsame Geschichte zu einem Gespräch bewegen.
»Du meinst also, dass du den alten mamser am Wickel hast?« Während ihrer Bekanntschaft war Lou Ellas Wortschatz deutlich gewachsen. »In Wirklichkeit hat er dich am Wickel, und zwar gewaltig.«
Bernie räumte ein, dass das wahrscheinlich stimmte, meinte jedoch, dass das nicht unbedingt schlecht sein musste. Trotzdem störte ihn, dass Lou Ella eine gereizte Haltung gegen einen Heiligen einnahm, den sie gar nicht kannte, und dass sie eine verstockte Agnostikerin blieb, was den eisumschlossenen Lebenslauf des Rabbis betraf. Er vermutete, dass sie eifersüchtig war; aber da ihre Eifersucht auch schmeichelhaft für ihn war, konnte er ihr nicht böse sein.
Es war Sommer, und da sie nicht zur Schule mussten (auf die Bernie gern ganz verzichtet hätte), verbrachten sie viel Zeit miteinander. Mr. Karp war vollauf mit seinen und den Angelegenheiten des Rabbis beschäftigt, und seine Frau hatte ihr Interesse für Selbstverwirklichung entdeckt (sie besuchte Sitzungen im neuen Haus der Erleuchtung und musste danach sogleich, erschöpft von einem Übermaß an Ruhe, zu Bett gehen). So erinnerten sich Bernies Eltern kaum noch daran, dass sie einen Sohn hatten. (Oder eine Tochter, da Madeline einen Job als Model für eine Kunstakademie angenommen und beschlossen hatte, nie mehr nach Hause zu kommen.) Mrs. Tuohy arbeitete nachts und schlief tagsüber. So kam es, dass Lou Ella, die sich um ihre kleine Schwester kümmern musste, und Bernie praktisch zu Waisen wurden. Wenn Bernie nicht gerade in seiner Ausgabe von Die Sprüche der Väter blätterte, die er überallhin mitschleppte, oder eine Reise in die Zeitlosigkeit unternahm, gondelten sie - an den Abenden, an denen Lous Mutter von jemandem aus ihrer Fahrgemeinschaft abgeholt wurde - in Mrs. Tuohys Malibu-Coupé durch die Gegend.
Mit der dumpfen Sue Lily im Schlepptau, die von Lou Ella beharrlich umsorgt wurde, brausten sie südlich von Memphis auf Deltastraßen dahin, vorbei an dem Glücksspielmekka, das zwischen Baumwollfeldern emporgeschossen war wie eine smaragdene Stadt. Sie fuhren ins Zentrum, weil Lou der Meinung war, dass Bernie die Welt kennenlernen sollte, vor der er ständig floh. Allerdings hatte Bernie den Verdacht, dass das nur ihr Vorwand war, um sich die Sehenswürdigkeiten anzuschauen - die Spelunke, in der W.C. Handy den »St. Louis Blues«
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