Der gefrorene Rabbi
Maulbeerbäumen und Forsythien, Eichen und Ulmen, die mit Salven aus Sprinkleranlagen gepäppelt wurden. Als er sich Rabbi ben Zephirs neuem Haus der Erleuchtung näherte, fiel Bernie auf, dass sein Schatten kürzer wurde und dass seine Füße vom Ende des Schattens zu dessen Knien zu wandern schienen. Dann trat er über Hüfte, Brust und Schultern, stieg auf den Kopf und entfernte sich vom Schatten - der verschwunden war, als sich der Junge umdrehte. Da er sich in den vergangenen Monaten an unheimliche Erscheinungen gewöhnt hatte, sagte sich Bernie: »Wie gewonnen, so zerronnen.«
In der letzten Zeit öffnete sich die physische Welt ständig Invasionen aus Zonen, in denen nicht immer die Gesetze von Ursache und Wirkung galten. Vermutlich verdankten sich diese Phänomene zum Teil dem Einfluss von Lou Ella Tuohy, deren Dienste dazu beitrugen, das Jenseits des olam ha-ba in das Hier und Jetzt des olam ha-se zu integrieren. Ihre Präsenz in seinem Leben sorgte dafür, dass bei der Rückkehr von seinen mystischen Abenteuern manches, was er gesehen hatte, an seinem Gehirn haften blieb wie Distelwolle. Das hatte zur Folge, dass die Zuneigung zu Lou Ella für Bernie häufig ununterscheidbar von seiner Zuneigung zur gesamten Schöpfung wurde. Und er empfand es als Verlust, nicht mehr hin-und hergerissen zu sein zwischen dem Wunsch, sich in himmlische Höhen zu schwingen, und dem Verlangen, in der Nähe des Mädchens zu sein.
»Du machst mir den Abschied zu leicht«, klagte er, wenn auch nur, weil Lou Ella sich nie beschwerte. Nicht nur legte sie buchstäblich mit Hand an, um seine spirituellen Reisen zu ermöglichen, sie kümmerte sich auch geduldig um sein körperliches Wohlbefinden, wenn sein Geist abwesend war, und hieß ihn bei seiner Heimkehr als Helden willkommen.
Das Mädchen, das sich die Haare vor Kurzem in reinem Mercurochromgrün gefärbt hatte, ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. »Stimmt«, erwiderte sie schließlich ohne jede Bitterkeit. »Ich bin die Helferin des egoistischsten smoks auf der ganzen Welt.«
»Es heißt schmok«, korrigierte Bernie sie. Wieder einmal musste er sich dafür entschuldigen, dass er mit leeren Händen von einem Ausflug in verborgene Dimensionen zurückgekehrt war.
Obwohl sich der Alte aus Bernies Leben praktisch verabschiedet hatte, betrachtete der Junge Rabbi Elieser ben Zephir noch immer als den Initiator seiner Bewusstseinserweiterung und als unantastbare Autorität - trotz der Eskapaden, die er sich angeblich in seinem neuen Etablissement leistete. Rabbi ben Zephir und sein populäres spirituelles Zentrum hatten sich nämlich zu so etwas wie einem Blitzableiter für die Medien von Memphis entwickelt. Nachdem sie die Geburt des Rock’n’ Roll und den Märtyrertod eines schwarzen Messias erlebt hatte, waren der Stadt Kontroversen nicht fremd, doch die Kapriolen des aufgetauten Heiligen hatten das Interesse der breiten Masse geweckt, die hinsichtlich seiner Echtheit geteilter Meinung war. Wer nicht zu der wachsenden Zahl derer gehörte, die seine Lehr- und Meditationsveranstaltungen besuchten, neigte dazu, ihn als Scharlatan und Hochstapler anzuprangern. Diesen Vorwurf hätte man als Auswuchs eines Antisemitismus der alten Schule werten können, hätten sich nicht die Stimmen vieler jüdischer Institutionen in diesen Chor der Ablehnung gemischt. Die Synagogen verliehen ihrer rechtschaffenen Empörung sogar lauter Ausdruck als die meisten anderen Kritiker. Doch die Kontroverse gab dem Wirken des Rabbis erst die richtige Würze und schärfte noch das Profil seiner Medienkampagnen. Häufig wurden im lokalen Rundfunk und Fernsehen Werbespots gebracht, in denen das neue Haus der Erleuchtung den Kosmos auf Nachfrage verhieß. Plakate zeigten das graue Haupt Rabbi ben Zephirs mit einem schtrejml aus Waschbärfell und dem Slogan: »Fühl dich gut mit dir selbst, das ist das ganze Gesetz.« Eine Internetsite präsentierte ein Menü mit den Programmen des neuen Hauses.
Es war verblüffend, welch kometenhaften Aufstieg der Alte seit seinen bescheidenen Anfängen im Hobbyraum der Familie Karp erlebt hatte. Doch während Bernie seinen eigenen Wandel vom Faulpelz zum angehenden Adepten dem Einfluss des Rabbis zuschrieb, nahm er zugleich für sich in Anspruch, dass dieses Verhältnis auf Gegenseitigkeit beruhte. Der Rabbi war Bernie zu Dank verpflichtet, weil er seiner Wiederauferstehung beigewohnt hatte. Immerhin war er es, der den Alten in die Neue Welt eingeführt und seine
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