Der gefrorene Rabbi
die Ausrüstung, die ihn blind oder zum Krüppel machte, um sich als Hilfsarbeiter zu verdingen: einmal als Knopflochstanzer, ein anderes Mal als Hausierer. Letzteres brachte eine eigene Tarnung mit sich, da er von oben bis unten mit Hosenträgern behängt war und wie eine Weide aussah.
Mit jedem Beschäftigungswechsel nahm er auch einen neuen Namen an: Chaim Furt, Itche Grin. Meistens hielt er sich jedoch verborgen, um sich keine Blöße zu geben. Hin und wieder genoss er einen freien Tag, so zum Beispiel bei Wahlen, wenn die Tammany-Bosse jedem ein Gratismittagessen spendierten, der mehrfach für ihre Kandidaten stimmte. Doch selbst dann blieb Max immer auf der Hut. Natürlich hätte er als Jochebed Zutritt zu Wohlfahrtseinrichtungen wie dem Home for Wayward Jewish Girls gehabt, wo gefallene Mädchen voller Mitleid behandelt wurden, wie er gehört hatte. Aber Jochebed war in Mrs. Weintraubs Wanne praktisch ertrunken, so gering wog ihre Stimme nun in Max’ Angelegenheiten; und Max war so verstrickt in seine Igs, Chaims und Abednegos, dass er gar nicht mehr wusste, wer er in Wirklichkeit war.
Daher stieß Jochebed, wenn sie ausnahmsweise aus der verstörenden Gleichgültigkeit gegen ihr eigenes Schicksal erwachte, mit ihren Bitten, die Suche nach Rabbi ben Zephir fortzusetzen, auf taube Ohren. In seiner doppelten Verkleidung vergaß Max die untergründige Jochebed meist völlig, wenn es nicht gerade um Verrichtungen ging, deren Geheimhaltung ihn immer wieder vor demütigende Probleme stellte. Dazu kam sein wachsendes Repertoire an Schwindeleien. Zuletzt hatte er sich auf den Verkauf von kleinen Säckchen Sand verlegt, den er aus der Gosse geschaufelt hatte und als Erde aus Jerusalem feilbot. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis auch diese List enttarnt war. Die Verbände, die ihre Wanderbotschafter aussandten - manche baten um Almosen für die erschöpften Schmarotzer von Jerusalem, andere für die Pioniere des jischuw -, gerieten häufig aneinander, doch ihr besonderes Augenmerk galt natürlich Betrügern.
So beschloss Max eines Abends, den alten Reb Salpeter in den Ruhestand zu schicken. Völlig benommen von einer lähmenden Müdigkeit, zog er die Jacke und Melone von Mrs. Weintraubs durchgebranntem Gatten an, ohne sich sonst in irgendeiner Weise zu schminken. Ihm war nur halb bewusst, dass er zu seiner ursprünglichen Verkleidung zurückgekehrt war, als er zur Delancey Street aufbrach, um sich etwas geräucherten Hering oder Obst zu kaufen. Dabei entging ihm nicht, dass es wärmer war. Er fühlte sich einsam.
Als er auf einen Gemüsestand unter den zitternden Pfeilern der Hochbahn an der Second Avenue zuschlenderte, trat ein Kerl mit einer im Jockeystil nach hinten gedrehten, verlotterten Golfmütze auf ihn zu und begrüßte ihn in vertrautem Ton: »Bist du so hübsch, musst du einfach Max Feinschmeker sein.«
Es war der junge Mann vom Schiff. Trotz seiner schäbigen Kleidung war sich Schmerl so sicher wie nur weniger Dinge in diesem langen kalten Winter, in dem er täglich Kot gekarrt hatte. Er war überrascht, wie sehr ihn der Anblick erleichterte, obwohl sie noch nie ein Wort miteinander gewechselt hatten. Schmerl dachte zwar, dass er ihm inzwischen viel zu sagen hatte, doch seine Freude machte ihn schüchtern und zurückhaltend. Statt die Straße zu überqueren, folgte er ihm eine Weile auf der anderen Seite. Schließlich hatte er es nicht eilig. Bis zur nächsten Runde mit der Dreckpatrouille waren es noch Stunden. Er fand es beruhigend, den jungerman aus der Ferne zu beobachten, aber auch traurig, zu sehen, wie seine Würde in den vergangenen Monaten gelitten hatte.
Nach ungefähr einem Block auf der Delancey Street bemerkte Schmerl, dass sich ein dürrbeiniger Kerl in Kniehose und einer umgedrehten Caddiemütze anscheinend ebenfalls an die Fersen des jungen Mannes geheftet hatte. Dann beschleunigte der Mützenträger den Schritt, bis er den jungerman kurz vor einem Obststand eingeholt hatte, und redete ihn an, woraufhin dieser wie ein geölter Blitz davonsauste. Schmerls Herz pochte schneller, als er sah, wie der Jüngling auf dem Gehsteig dahinhetzte und hektisch den Passanten auswich. Mitten im Lauf blickte er über die Schulter und drehte sich gerade rechtzeitig wieder nach vorn, um einem Riesenkerl in knöchellangem Staubmantel in die Arme zu laufen, der sich ihm in den Weg stellte. Derart gefangen, wurde der junge Mann von dem Riesenkerl - zusammen mit dem Mützenträger, der
Weitere Kostenlose Bücher