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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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und wäre fast gegen den Karren geprallt, den die Vermummte hinter sich herzerrte. Die hölzernen Räder ratterten laut eine kurze, schlecht beleuchtete Steintreppe hinab. Als sich Max’ Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wunderte er sich, dass sich der kleine sackartige Mann in seinem holpernden Gefährt aufrecht halten konnte. Am Fuß der Treppe erstreckte sich eine fensterlose, von flackernden Wandlampen beschienene Katakombe, wo Besucher mit verschiedenen Gebrechen an Tischen saßen und sich um eine auf Holzfässern errichtete Whiskeybar drängten.
    Nachdem er auf seinem gesunden Bein die Stufen hinuntergehüpft war, hängte ein Krüppel vor Max seine Krücken auf und schnallte den Ledergurt um seinen Stumpf ab, der sich als vollkommen taugliche Gliedmaße entpuppte. Inzwischen hatte der Blinde mit ausladender Geste Stock und Brille von sich geworfen, um sich einen Weg zur Bar zu bahnen, wo gerade zwei Gäste aus einem Schlauch in einem Spundloch Bier ansaugten. In seinem Karren wand sich der amputierte Veteran auf dem Rücken wie ein Käfer, um gleichfalls fehlende Arme und Beine zu regenerieren, während seine Betreuerin ihr Tuch fallen ließ und sich die schwärenden Wunden von den Wangen schälte, bis eine Frau mit leidlich angenehmen Gesichtszügen zum Vorschein kam.
    Stellten die einen verlorene Extremitäten und Fähigkeiten wieder her, waren andere damit beschäftigt, sich zurechtzustutzen und zu -schaben. Sie trugen Gallert und Grind auf und brachten Glatzenmützen aus Gummi mit Geschwülsten oder Knochenkrankheiten und Missbildungen simulierende Prothesen an. Die einen arbeiteten mit Riemen und Bändern, um Amputationen zu erzeugen, während die anderen sich um einen Herd kauerten, um Gelatine und Festiger für die Gestaltung künstlicher Verletzungen zu erhitzen. Mit pädagogischem Gebaren führte ein schmalbrüstiger Herr an seinem Körper vor einem kleinen Kreis von Schülern vor, wie man Furunkel, Abschürfungen, Wundmale und Gangrän vortäuschte. Wer nicht gerade dabei war, sich Verstümmelungen zuzufügen oder zu heilen, bewunderte sein Werk in trüben Spiegeln oder inspizierte ein gut ausgestattetes Kleidergestell. Manche begnügten sich mit Gesprächen bei Bier mit Schuss.
    Max hatte schon von Orten gehört, wo die Blinden sehend und die Lahmen gehend gemacht wurden. Allerdings waren das heilige Orte, und dieses verwahrloste Verlies machte nicht unbedingt einen geweihten Eindruck. Natürlich hatte es auch in Lodz zahllose falsche Bettler gegeben, doch wer hätte geahnt, dass sie das Produkt einer derart ausgeklügelten Industrie waren? Nachdem er mit großen Augen über die Treppe bis in den eigentlichen Keller vorgedrungen war, hörte Max von allen Seiten Englisch in den verschiedensten Dialekten und Akzenten, unter anderem galizischen. Mutig wandte er sich an einen landßman, an dessen Stirn eine Blase von der Größe eines Schröpfglases prangte. »Wo bin ich?« Die Antwort erhielt er in theatralischem dajtschmerisch: »Doß ist eine Krüppelfabrik.« Grinsend zeigte der Mann die schwarz getünchten Zähne. »Wenn man so will, eine amerikanische Zweigstelle von dem, woß man in Europa Wunderhof nennt. Allerdings würden manche eher sprechen von einem Hof der letzten Zuflucht.«
    Des Weiteren erfuhr er, dass die Kunden die Kostüme und Requisiten des Bierkellers kostenlos benutzen durften, sofern sie in einem durch den Eigentümer notariell beglaubigten Vertrag zusicherten, einen festen Prozentsatz an ihrem Gewinn mit den anderen zu teilen. Auf diese Weise war gewährleistet, dass sie die Früchte ihrer Schnorrerei in den Keller trugen wie in ein Firmenlager.
    Damit begann für Max die Reihe von Maskeraden, die ihn durch die mageren Wintermonate brachten. Tags war er Bettler, nachts suchte er Schutz in einem Schatten-Manhattan. Manchmal schlief er auf dem im North River eingefrorenen Lastkahn der städtischen Obdachlosenunterkunft oder in der verblichenen Pracht der alten Astor Library, wo die HIAS residierte. In glückloseren Tagen fehlte ihm das Geld für ein Bett, und er schlief draußen, das eine Auge offen, auf einem Dampfabzug oder einem Lüftungsrost; wenn er gute Einnahmen erzielt hatte, mietete er sich ein wandschrankgroßes Zimmer über einer Bar, weil ihm die Gesellschaft von Mäusen lieber war als die öffentlichen Zufluchtsstätten, wo er den Übergriffen von Perversen und Dieben ausgesetzt war. Wenn ihm der Mummenschanz zum Hals heraushing, verzichtete er eine Weile auf

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