Der gefrorene Rabbi
das Dumme war, dass er sich im Augenblick nicht an seinen Namen erinnern konnte. Itche Furt? Chaim Grin? Er tastete sein Gesicht nach künstlichen Asymmetrien ab und erkannte seine samtenen Konturen.
»Feinschmeker.« Mit steifer Geste streckte er die Hand aus. »Max.«
»Schmerl.« Etwas Vertrautes lag in seinem Ton, und Max fragte sich, ob sie sich schon einmal begegnet waren. »Schmerl Karp.« Möglicherweise war es das erste Mal, dass Schmerl seinen abgekürzten Nachnamen laut ausgesprochen hatte. Eifrig drückte er Max die Hand, während er mit der Linken weiter das schwellende Gänseei auf Max’ Kopf betupfte. »Hob ich dich schon gesehen auf dem Schiff, mit dem wir sind gekommen von dem alten Land.«
Max hatte Mühe, diese Neuigkeiten mit der merkwürdigen Behausung des Einwanderers in Einklang zu bringen, die so weit entfernt war von Ausbeuterläden, Handkarren und schuln. Sein Blick wanderte wieder von dem lächelnden Gesicht und dem rostroten Haarschopf seines Gastgebers zu den über ihnen hängenden Gegenständen. Als Schmerl das bemerkte, drückte er Max den Umschlag in die Hand und trat an ein Pult, das mit einer Art Tastatur ausgestattet war: ein Ensemble aus Holzgriffen, von dem Schnüre verschiedener Stärke fächerartig nach oben liefen wie die Wanten eines Segelschiffs. Mit geballten Fäusten und einer unvermuteten Kraftentfaltung hämmerte er auf die einzelnen Griffe ein, und die schwebenden Objekte sanken gemeinsam herab: der glühende Ofen in der Form eines gusseisernen Schweins mit einem Kaffeeperkolator obenauf, die Laborbank mit schäumenden Gefäßen voller glühenden violetten Gases. In der Mitte einer großen, raffinerieartigen Konstruktion saß eine mit perforierten Metallstreifen befestigte, umgedrehte Milchkanne, die von Klammern, Zahnrädern, Fahrradfelgen und Lichttupfern umgeben war. Das Ganze war von einer dicken Schicht Raureif überzogen.
Als Schmerl eins der rahmenlosen Räder in Bewegung setzte, leuchteten Spulen auf, ein Motor summte, und Dampf stieg auf. »Die Maschine, bildet sie nach die Vision des Propheten Ezechiel von den Rädern in den Rädern. Macht sie, die Maschine, eine ständige Bewegung, und entsteht auch unter Druck Ammoniakgas, epeß a ewiger Winter.«
Wie aufs Stichwort spuckte die Maschine etwas in eine Rutsche, das in einer Blechpfanne am Ende landete. Es sah aus wie ein riesiger, facettenreicher Diamant oder ein großer Eisbrocken.
Eine ganze Minute lang starrte Max fasziniert auf die Maschine, ehe sein Blick unwiderstehlich von einem schmalen Zedernholzkasten angezogen wurde, der immer noch an der Decke hing. Abermals nahm Schmerl das Interesse seines Gasts wahr und drückte mit einem unverkennbaren Anflug von Angeberei auf zwei schräge Griffe. Ketten rasselten über eiserne Zahnkränze, während der Schrein herabschwebte, bis er auf dem irdenen Boden stand und automatisch der Deckel aufsprang. »Glaube ich, gehört es dir«, bemerkte der Bucklige.
Max stand allein auf, ließ sich aber von Schmerl zu dem Kasten helfen. Als er hineinblickte, drückte er sich den Umschlag an den Kopf, als müsste er den Glockenschwengel in seinem Schädel dämpfen. Rabbi Elieser ben Zephir, das Boibiczer Wunder, ruhte friedlich in einem klaren Block Eis, der erstaunlich frisch wirkte. Im Gegensatz zu dem abgewetzten grünen Felsen, an den sich Max erinnerte, war dieser hier makellos und brachte den liegenden zadik mit seinem Bart und Kaftan gut zur Geltung. Max drehte sich zu Schmerl um. »Wer bist du?« Eigentlich hätte er sich diese Frage auch selbst stellen können. In seinem umnebelten Gehirn versuchte er, ein Bild seiner momentanen Situation zusammenzufügen: Es war Ende März, und er befand sich im Schuppen eines Wagenhofs, als Gast eines Sonderlings, der möglicherweise aus einer Anstalt geflohen oder einem Märchen entsprungen war. Doch all das half kaum, um seine tiefe Verwirrung zu lindern oder um zu erklären, weshalb sich Jochebed so vollkommen zu Hause fühlte.
2001
A uf dem Weg zum rebbe beobachtete Bernie den länglichen Schatten (seinen eigenen), der auf dem gesprenkelten Gehsteig vor ihm herlief. Er war mit dem Bus in diese Gegend am südlichen Ortsrand gelangt, die Ähnlichkeit mit dem Viertel hatte, in dem er wohnte: eine junge Trabantenstadt mit aufgeblähten Häusern in allerlei architektonischen Varianten, die dem Betrachter in ihrer Hohlheit rein gar nichts über die Vergangenheit verrieten. Die Straßen waren gesäumt von dürren jungen
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