Der gefrorene Rabbi
das Schmerl jeden Abend von der Decke herunterließ und am späten Morgen nach dem Aufwachen wieder nach oben zog - manchmal mit Max, der noch darin lag. Max hatte sich zwar an Schmerls seltsame Arbeitszeiten gewöhnt, doch oft verschlief er in seinen geborgten langen Unterhosen den größten Teil des Tages. In den ersten Tagen nach seiner Rettung setzte er keinen Fuß aus dem automatisierten Schuppen, als hätte ihn die Not der vergangenen Monate endlich eingeholt und ihm noch nachträglich jede Kraft geraubt. Obwohl seine Verletzung harmlos und schon nach einer Woche so gut wie verheilt war, blieb er rekonvaleszent, und Schmerl ließ ihm seine Schwäche gern durchgehen. Nachdem er ihn aus der Gefahr befreit hatte, fühlte sich der Kotkehrer für die fortdauernde Sicherheit und Gesundheit seines Gasts verantwortlich. Max versicherte ihm, dass er nur zufällig zum Opfer der Angreifer in der Gasse geworden war, aber Schmerl blieb ängstlich um das Wohlbefinden seines neuen Freunds besorgt. Täglich wechselte er ihm den Kopfverband, untersuchte ihn auf Symptome einer Gehirnerschütterung und legte ihm auch weiter die stinkenden Kompressen an; er kochte ihm Mahlzeiten: meistens ein klebriges Gemisch aus kasche und Eiern, nur manchmal gab es jüdischen Fisch. »Is er jetzt mein Namensvetter, der Karp.« Und Max, der seit Monaten die verschiedensten trejfeß gegessen hatte, war dankbar und amüsierte sich zudem über die Tiegel und alkalischen Zellen, die Schmerl bei seinen kulinarischen Bemühungen einsetzte, deren Ergebnisse nicht selten ungenießbar waren. Es war auch nicht unbedingt hilfreich, dass sich in das Aroma aller Gerichte das unverkennbare Bouquet der Stallungen mischte. Doch um seine immerwährende Verbundenheit zu beweisen und bei Kräften zu bleiben, wie Schmerl immer forderte, probierte Max die ihm angebotene Kost. Nach einiger Zeit entsann er sich allerdings mit Erlaubnis seines Gastgebers der schlummernden Fähigkeiten Jochebeds und übernahm selbst das Kochen.
Natürlich musste das Thema gefrorener Rabbi angeschnitten und abgetan werden, damit zwischen ihnen (sozusagen) das Eis brechen konnte. So beteuerte Schmerl zwar, nicht neugierig sein zu wollen, doch er stellte schon am ersten Abend seine Frage.
»Und wie kommt er zu dir, der alte choßid?«
Max zauderte, weil er den Buckligen nicht belügen wollte, ihm aber auch nicht die schlichte Wahrheit erzählen konnte. »Is er in meiner Familie ein geliebtes Andenken.«
»Woß er lässt euch erinnern?«
Wieder war Max in der Klemme. Zu seiner Erleichterung nutzte Schmerl sein Schweigen, um eine eigene Theorie vorzubringen. »Glaube ich, lebt er noch, der alter mentsch.« Ein versonnener Ausdruck umwölkte sein Auge. »Schläft er nur und träumt. Träumt er den Traum von der Welt, woß wir alle in ihr sind, und wann wir ihn wecken jetzt, wäre es schon vielleicht von der Welt das Ende.«
Während er am Verstand seines Gastgebers zweifelte, fügte sich Max zugleich Jochebeds Meinung, die diese Vorstellung für sehr vernünftig hielt.
Zuerst machte sich Schmerl Sorgen, dass Reb Levine (der über den Ställen wohnte) seinen Gast entdecken und sie beide hinauswerfen könnte, aber der Unternehmer hatte kaum mehr einen Grund, den Schuppen zu betreten, seit sich sein Angestellter so unentbehrlich gemacht hatte. Tatsächlich genoss der alte Wagenhofbesitzer dank Schmerls Energie und Findigkeit eine Art Vorruhestand. Dementsprechend musste sein Faktotum auch nie den Dschungel von Apparaten erklären (den mit Fäkalien und Mondlicht betriebenen Ottomotor, die Batterie, die die Spannung wechselte, wie ein Prisma eine Lichtwelle in einen Regenbogen spaltet), der den Teerpappenbau überwuchert hatte.
Mit seiner Leidenschaft fürs Erfinden wetteiferte jedoch die freudige Aussicht, zusammen mit einem würdigen Partner die Erkundung des Goldenen Lands fortzusetzen; und auch wenn ihm die Erholung seines Gasts am Herzen lag, lud Schmerl diesen nach einer Weile zu einem Spaziergang nach draußen ein. Diese Aufforderung löste in Max die erste Unruhe aus, seit er Schmerls Gastfreundschaft genoss. Doch dann verging das Gefühl, und er zog das Hemd und die Kitchener-Weste an, die der Kotkehrer für ihn bei einem Trödler an der Orchard Street erstanden hatte. (Seine eigenen Kleider waren nicht nur blutbesudelt, sondern grotesk voluminös.)
Es war ein später Nachmittag zu Beginn des Frühlings, sicher nicht mehr lang bis zum Pessach. Aber wer erinnerte sich in diesem
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