Der gefrorene Rabbi
heidnischen Land noch an Feiertage? Trotzdem war Schmerl in Feiertagsstimmung. Gerade hatte er die wöchentliche Schutzgeldrate an die jüdische Schwarze Hand in ihrem merkwürdigen Hinterzimmer in der Grand Street bezahlt. Dort hatte er zu seiner Überraschung an einem flaschenübersäten Tisch zwei Gestalten bemerkt: den Schirmmützenträger mit neuen Knickerbockern und Schottenkarostrümpfen und seinen Kumpan, der sich gerade Koks zwischen die Kiemen schob. Zum Glück erkannten sie ihn nicht. Nachdem er sie in ihrem natürlichen Lebensraum gesehen hatte, war Schmerl davon überzeugt, dass es sich um zwei stinknormale ganowim handelte, wie sie einem im Tenth Ward ständig über den Weg liefen. Letztlich ging von ihnen auch keine größere Bedrohung aus als von Bettwanzen und schimmligen Wänden. Daher lud er den jungerman, der ohnehin schon zu lange untätig gewesen war, zu einer kleinen Promenade ein. Für alle Fälle nahm er allerdings seinen galvanischen Stab mit.
Nach dem Rückzug böiger Winde stellte sich eine milde Brise ein, als der Kotkehrer und der Hochstapler durch die Straßen der East Side streiften und gemeinsam die Dinge beobachteten, die sie schon zahllose Male allein gesehen hatten. Ohne es laut auszusprechen, hatten beide das Gefühl, das Viertel ganz neu zu erleben und mit den Augen des anderen zu betrachten. Nach der langen Zeit als einsame Außenseiter spürten sie nun gemeinsam etwas, was neu für sie war: Sie waren junge Männer, die sich in der Stadt umtaten, zwei Neugierige, die die Attraktionen des Gettos begafften, und für die jedes Lokal und Konfiseriegeschäft am East Broadway eine Möglichkeit bot, Abenteuer zu erleben und Unfug zu treiben. Schmerl konnte sich gar nicht vorstellen, wie sein Begleiter den Winter überlebt hatte, und hatte das Gefühl, ein Greenhorn in die schillernde Stadt einzuführen; und Max bestärkte ihn in dieser Haltung, da er die Straßen ausnahmsweise nicht als Bedrohung wahrnahm, sondern als Vergnügen. Er legte die ständige Wachsamkeit, die ihm zur Gewohnheit geworden war, ein wenig ab und unterdrückte den Impuls, sich wieder hinter einer Maske zu verbergen, so beschützt fühlte er sich neben seinem Schlafgenossen, diesem meschuggen mit den seltsamen Steckenpferden, den er trotzdem zunehmend bewunderte. Als sie auf ihrem Spaziergang mehreren Mädchen in taubengrauen Hemden zusahen, die Himmel und Hölle spielten und »Chatzkele, chatzkele, schpil mir a kazatzkele« sangen, sprudelte Max fast über vor Begeisterung. »Woß far a mechaje!«, rief er, wurde aber gleich verlegen. Er hatte den Verdacht, dass dieser unschickliche Freudenausbruch ein Witz Jochebeds auf seine Kosten war (während sich Jochebed in ihrer Verborgenheit fragte, ob Max den Verstand verloren hatte).
Peinlich wurde es für Max erneut, als sie in ein Café traten, um eine Schüssel Borschtsch zu sich zu nehmen, und Schmerl sein knipl - seinen Knoten mit Erspartem - herauszog und darauf bestand, die Rechnung zu bezahlen. Nach einer dunklen Zeit als Empfänger von Almosen wollte der Bettler nun selbst als Wohltäter auftreten, obwohl er völlig mittellos war.
»Is es für mich mein Vergnügen«, versicherte ihm sein Gastgeber, der stolz darauf war, Arm in Arm mit einem Jüngling zu gehen, dessen zarte Züge und schmächtige Gestalt fast unziemlich für einen Mann schienen. Mit einem Seufzen nahm Max die Stärkung an, so wie später auch die Einladung zu einer jiddischen Theateraufführung von Hamlet, der jeschiwe-bocher , übersetzt und verbessert zur Erbauung der Allgemeinheit, und die Eintrittskarte in ein Varieté. Schmerl seinerseits fühlte sich seinem Gefährten herzlich verbunden für die schöne Zeit, die sie miteinander verbrachten. Wie lange wartete er schon auf jemanden, mit dem er seine Leidenschaft für das ausgelassene Treiben auf den Straßen und die Etablissements teilen konnte, die er bisher aus Schüchternheit nicht betreten hatte! Es war, als würde nun auch er zu dem hektisch bewegten Viertel gehören und wäre endlich in Amerika angekommen.
Was Max betraf, so konnte er sein Glück noch immer nicht richtig fassen. Zum einen war es trotz der erzwungenen körperlichen Nähe ihrer Behausung relativ einfach, seinem Gastgeber Jochebeds Geschlecht zu verheimlichen. Schmerl nahm große Rücksicht auf die Privatspähre seines Gasts und war auch selbst in seinen Gewohnheiten sehr diskret. Daher war nicht einmal das Verbergen von Jochebeds Menstruationstüchern ein Problem,
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