Der gefrorene Rabbi
trotz des hartnäckigen Geruchs, den Schmerl einfach für Max’ typisches Aroma zu halten schien. Dank der Achtlosigkeit gegen seine eigenen sanitären Bedürfnisse und der Abstumpfung durch den Gestank im Wagenhof empfand Schmerl eine zutiefst menschliche Ausdünstung in keiner Weise als abstoßend. In dieser Umgebung hatte Jochebed sogar manchmal das Gefühl, die Hartnäckigkeit, mit der sie ihr Geheimnis hütete, ein wenig lockern und gelegentlich einen Blick durch die Maske Max Feinschmekers werfen zu können, als wäre die Welt doch nicht so ein schrecklicher Ort. Dabei machte sich das Mädchen manchmal durchaus Gedanken darüber, dass sie mit einem buckligen Gefährten dieses enge Quartier teilte und damit eine moralische Schuld auf sich lud, von der Schmerl gar nichts ahnte. In manchen Nächten lag sie wach auf der Baumwollmatratze in dem Bewusstsein, dass ein männliches Wesen neben ihr schlief. Schließlich durfte sie nie vergessen, dass Männer der Feind waren, obgleich dieser, der luft-mentsch Schmerl, offenbar einer völlig anderen Gattung angehörte. Letztlich waren es Schmerls Beteuerungen, dass Max’ Gesellschaft für ihn eine Erlösung aus seiner Einsamkeit war, die Jochebeds Vorbehalte überwanden.
Dennoch wahrten sie eine kameradschaftliche Förmlichkeit und redeten sich mit Feinschmeker und Karp an, obwohl ihnen gelegentlich auch der Vorname über die Lippen kam. Natürlich konnte ihr Honigmond nicht ewig dauern, und Max, dessen Scharfsinn allmählich wieder erwachte, wollte nicht in Tatenlosigkeit verharren. Um sich für die Großzügigkeit seines Gastgebers zu revanchieren, fing er an, Ideen zu wälzen. Eines Abends bat Max - oder war es Jochebed; denn es kam immer häufiger vor, dass sich seine Stimme zu einem samtigen Sopran erhob - Schmerl, ihm noch einmal zu erklären, wie er Rabbi ben Zephirs Eisblock erneuert hatte.
»Sol sajn asoj!«, erwiderte Schmerl. »War es a Kinderspiel.« Plötzlich ganz aufgeregt beschrieb er, wie er mit einem geklauten Scheinwerfer das Sonnenlicht verstärkt hatte, um das alte Eis im Sarg aufzutauen. So hätte der Rabbi herausschmelzen können wie eine Makrele auf einer Platte, wenn er nicht gleichzeitig mit einem Gummischlauch Grundwasser heraufgepumpt und damit den Sarg gefüllt hätte. Danach hatte er das frische Wasser eingefroren. »Is doß der Teil, woß für mich is noch nicht klar«, warf Max ein. Doch als Schmerl mit Begriffen um sich warf, für die es keine jiddische Entsprechung gab - »flüchtiges Gas«, »Ätherkompression«, »Homunkulus« (da er den Rabbi als Stadium in einem alchemistischen Prozess betrachtete) -, unterbrach Max ihn erneut mit der Bitte, ihm den Ablauf zu zeigen. Dann verfolgte er gebannt Schmerls Vorführung mit einem Seiheimer aus Blech. Mit so einer Darbietung, so überlegte Max, konnte man gewiss die Menschenmengen auf der Bowery faszinieren und sogar im Barnum Museum weiter nördlich respektable Erfolge erzielen. Doch dann wurden Max’ Überlegungen zielgerichteter, was vielleicht auf Jochebeds Einfluss zurückzuführen war, mit der er im Augenblick einen recht entspannten Umgang pflegte.
Jäh aus seiner Rolle als passiver Beobachter fallend, sprang er vom schwebenden Bett. »Karp, hoßt du schon mal gedacht zu machen a gescheft?«
»Eine Firma?« Schmerl genoss es, seine Weltläufigkeit zu demonstrieren, obwohl das Wort für ihn einen bitteren Beigeschmack hatte. Eigentlich dachte er selten über seine Träume hinaus, die in jüngster Zeit vielleicht etwas bodenständiger geworden waren, aber sich, Gott bewahre, nie auf kommerzielle Unternehmungen erstreckten. Doch er war so eingenommen von seinem neuen Gefährten, dass er bereit war, sich auf jeden Vorschlag von ihm einzulassen, und sei es nur, damit ihre enge Verbindung weiter bestand. Allerdings fragte er sich, was genau an Max ihn so bezauberte und zu dieser Anhänglichkeit bewog. Sicher hatte er ein angenehmes Äußeres und war zweifellos intelligent, und auch der Zusammenhang mit dem tiefgefrorenen zadik ließ ihn in Schmerls Achtung steigen. Zudem bestand die Möglichkeit, dass der Erfinder an den Rockschößen seines Gasts zu einem nie erstrebten Wohlstand gelangte. Und diesen wollte er um seines Freundes willen wohl auch nicht ausschlagen. Abgesehen von all diesen Dingen, blieb Max für den Kotkehrer die Verkörperung eines namenlosen Mysteriums, und Schmerl wollte sich nicht von ihm trennen, solange er es nicht ergründet hatte. So mochte zwar viel für
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