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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Einsamkeit und ein karges Auskommen sprechen, doch die Gründe für eine Fortsetzung der Gemeinschaft mit dem jungerman überwogen.
     
    Keine drei Wochen später standen sie vor dem Finanzmogul August Belmont II, der sich hinter seinem Schreibtisch erhoben hatte, wie um zwei streunende Katzen zu verscheuchen. »Verschwindet!« Auf dem gesalbten Haupt trug er einen pflaumenblauen Fes mit Troddel, die Schmerl an die Wurzeln einer umgedrehten Topfpflanze erinnerte, doch in jeder anderen Hinsicht war er eine imposante Gestalt. Als er den Gürtel des Hausmantels um die Hüften schloss, malte das große Fenster in seinem Rücken, das auf den blühenden Park auf der anderen Seite der Fifth Avenue zeigte, eine leuchtende Aura um die Konturen seiner gepflegten Erscheinung.
    »Von Ihrer Zeit bloß einen Moment, Ihre Exzellenz«, bat Max Feinschmeker, dessen Gestalt dank Überhose und Maschinistenschürze die Form einer Kartoffel angenommen hatte. Neben ihm stand ähnlich gekleidet Schmerl und umklammerte den Griff eines Apparats auf Rädern, der einem zwergenhaften Dickhäuter mit baumelndem Rüssel ähnelte. Da sie den klobigen Kasten nicht mit dem Omnibus transportieren konnten, hatten sie ihn den ganzen Weg auf einem klappernden Handkarren gezogen und sich darüber gewundert, wie die Stadt von Block zu Block ihren Charakter veränderte. Die alten Mietshäuser, Textilfabriken und Lager wichen den gusseisernen Fassaden von Bürogebäuden und Warenhäusern, die im Folgenden von Reihenhäusern aus Sandstein abgelöst wurden. Diese verebbten zugunsten von Hotels mit gestreiften Markisen und Portiers in Uniform, und die Hotels wiederum gingen über in ein Gewirr maurischer Theater, vor denen breite Reisewagen parkten und Plakate die Vorzüge von Doan’s Pills und russischem Karawanentee anpriesen. An der Fifty-ninth Street schließlich brach das kommerzielle Allerlei ab und machte Platz für die Pracht an der Ostseite des Central Park. Es war ein herrlicher Frühlingsnachmittag, und an die knospenden Bäume grenzte eine Reihe von Châteaux, Palazzi und burgartigen Villen, deren architektonische Stile vom alten Ägypten bis Versailles reichten. Inmitten dieser Parade ragten die protzigen Arabesken des Temple Emanuel auf, wo wohlhabende jekeß - da schabeß war - ihre Kreissägen abnahmen, ehe sie unter die olympischen Arkaden traten.
    Angesichts dieses Prunks sank den beiden jungen Männern kurzzeitig der Mut, doch keiner von ihnen wollte zugeben, wie fremd sie sich hier fühlten. Aber in den Wochen, die sie bereits damit verschwendet hatten, ein Treffen mit dem Magnaten zu vereinbaren, war ihre Entschlossenheit gewachsen. Max ging es um die Verwirklichung eines Vorhabens, mit dessen Hilfe sie in der Neuen Welt Fuß fassen konnten, Schmerl ging es um Max.
    Dass die Wahl auf den Philanthropen und Finanzier Belmont fiel, war kein Zufall. Er war der einzige Millionär (außer Rothschild), dessen Namen Max kannte. (»Bin ich mit ihm sehr famillionär«, hatte Max in der Begeisterung über seinen Plan gescherzt.) Belmont junior war jener Spross einer erlauchten Familie, dessen Namen der Eismensch Salman Pisgat im Zusammenhang mit dem Kauf der Kaviarlieferung hatte fallen lassen, der Max seine bequeme Fahrt übers Meer zu verdanken hatte. Stellte so ein Unternehmen nicht eine Verbindung zwischen ihm und dem Bankier her? Außerdem war Belmont, trotz seiner - in der halachischen Tradition gänzlich unerhörten - Benennung nach dem Vater, Gerüchten zufolge als Jude geboren worden. Daher hatte Max in beispiellosem Optimismus einen Brief an den gwir verfasst, sich darin vorgestellt und auf den Dienst angespielt, den er ihm kürzlich erwiesen hatte. Auf diese Weise hoffte er, für sich und seinen Partner eine Audienz bei dem berühmten Gentleman zu erlangen.
    Nachdem er im Lauf der Zeit von der zwielichtigen Vergangenheit seines Freundes erfahren hatte (sie bereitete ihm keine großen Bedenken, da er sich ja ebenfalls aus Russland herausgeschmuggelt hatte), half Schmerl beim Aufsetzen des Schreibens mit. Max diktierte ihm und konnte auf diese Weise verbergen, dass er praktisch Analphabet war. Doch auch Schmerls autodidaktisch erworbene Kenntnisse des Englischen ließen viel zu wünschen übrig. Zusammen brüteten sie tagelang über der Epistel, die folgendermaßen begann: »Hochverehrter & geliebter (›Wie sogt man ongeschtopt?‹) Geldmann, im Namen der großen Tradition, was uns wie die Belugafischeier, was ich Ihnen bringe vom Meer von

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