Der Gefundene Junge
der Grund, warum es ihm so zusetzt, sie zu sehen.«
Hap schaute an die Küchendecke. Irgendwo ein paar Stockwerke über ihnen saà Umber, in trübe Gedanken versunken. »Ich wünschte, ich könnte etwas für ihn tun.«
Balfour schaufelte die Bohnen in den Topf und legte den Deckel wieder darauf. »Es gibt eine Kleinigkeit, die du tun kannst, wenn du mir ein paar Minuten Zeit gibst, diese Kaffeebohnen zu rösten.«
23
Hap schlich mit dem silbernen Tablett nach oben und betete, dass Lady Truden ihn nicht abfangen würde. Auf dem Absatz zum dritten Stock spähte er zu ihrer geschlossenen Zimmertür hin und hoffte, dass sie sich dort aufhielt und mit ihrem Miniaturporträt von Umber beschäftigt war. Mit angehaltenem Atem lief er die letzten Stufen hinauf.
Umber saà auf seinem Lieblingsplatz unter dem Vielfruchtbaum. Normalerweise konnte er nie stillhalten, nicht einmal wenn er saÃ. Seine Knie wippten, sein Kopf nickte, seine Finger trommelten auf jede erdenkliche Unterlage und seine Augenbrauen hüpften hoch und runter. Aber nun sah er so ernst und reglos aus wie eine Statue. Er saà zusammengesackt auf der Bank, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und drückte die Finger in seine Augenwinkel. Er schien Hap gar nicht zu sehen, als er näher kam, das Klappern des Bechers auf dem Tablett nicht zu hören und den köstlichen, erdigen Duft nicht zu riechen, der von ihm ausging.
Hap hatte einen Kloà im Hals. »Lord Umber?«
Umber gab nur ein leises Grunzen von sich.
»Ich dachte, Sie möchten vielleicht einen Kaffee«, sagte Hap. »Balfour hat ihn gemacht. Er bringt mir bei, wie es geht. Ich kann schon die Bohnen rösten und all das.«
Umber legte die Hände auf die Knie und richtete sich solangsam auf, als wären alle seine Gelenke eingerostet. Er schaute auf das Tablett mit der Kaffeekanne, dem kleinen Sahnekännchen und seinem dickwandigen Lieblingsbecher. Schwerfällig wies er auf den Rand des Pflanzenkübels. »Dahin«, sagte er.
Hap stellte das Tablett ab. Dort standen schon ein zweites Tablett mit einer kaum angerührten Mahlzeit und ein drittes mit einem Becher Kräutertee. »Sie sollten etwas essen, Lord Umber.«
»Bitte«, murmelte Umber. »Das höre ich von Tru schon oft genug.«
»Tut mir leid.« Eine warme Brise ging über sie hinweg, die den Duft Hunderter Blüten vom Vielfruchtbaum und von anderen Pflanzen auf der Terrasse mit sich brachte. Es war schwer zu glauben, dass man an so einem herrlichen Tag in einem so schönen Garten traurig sein konnte. »Lord Umber, ich hoffe, es ist nicht meine Schuld, dass Sie sich so fühlen.«
Umbers Blick ging ins Leere. »Nein, ist es nicht. Das ist mir schon immer passiert. Auch vorher.«
»Vorher?«
»Vor ⦠alldem hier«, sagte Umber und wies mit schwacher Geste über die Stadt und das Meer. »Ich habe mich auch in meiner alten Welt hin und wieder so gefühlt. Aber dort konnte ich ⦠etwas einnehmen, das mir geholfen hat. Ein Medikament.«
Hap verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Kann ich etwas für Sie tun? Es muss doch irgendetwas geben. Ist es besser, wenn ich bleibe, oder soll ich gehen?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Umber. Seine Stimme war so leise wie ein Flüstern. »Nichts spielt eine Rolle. Keiner von euchund nichts von alldem hier. Es existiert doch ohnehin nicht wirklich, oder? Wie könnte es das?«
Hap legte den Kopf schief. »Sie glauben, dieser Ort existiert nicht wirklich?«
Umber schüttelte den Kopf.
»Aber ⦠wie soll das gehen? Natürlich bin ich real«, sagte Hap. »Es ist doch so wie in diesem Satz, den ich für Sie übersetzen sollte. Cogito ergo sum . Ich denke, also bin ich. Das Denken macht mich real. Wir existieren alle wirklich.«
Umber gab mit den Händen vor den Augen unzusammenhängende Satzfetzen von sich: »Zu merkwürdig, um wahr zu sein. Es wimmelt von Magie ⦠Naturgesetze und Gesetze der Physik sind auÃer Kraft gesetzt ⦠Nein, das ist alles ein Fiebertraum, ein Delirium. Ich liege schwer verletzt irgendwo herum, und all das hier ist die Halluzination eines sterbenden Gehirns ⦠das ist die einzige logische Erklärung. Dieser Ort hier, diese Leute ⦠ihr existiert in meinem Kopf, solange ich euch sehe. Geh diese Treppe hinunter, und du wirst
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