Der Gefundene Junge
zurück.
»Balfour sagt, dass ein Unwetter aufzieht. Ein schlimmes.« Hap blickte auf die Hügelkette hinter der Stadt. Am Horizont sah er einen schmalen blauen Streifen â den einzigen Teil des Himmels, der von dem aufziehenden Unwetter noch unberührt war. Hunderte von grau-weiÃen Möwen folgten dem Blau, während die Wolken landeinwärts wanderten.
»Ein Unwetter. Ja, ich sehe es«, murmelte Umber.
»Was sollen wir tun?«
Er konnte Umbers Antwort kaum hören. »Nichts. Der Hafenmeister hat ein Wetterglas. Der Palast und alle meine Kapitäne ebenfalls. Sie haben die Nachricht schon verbreitet.«
Hap trat zu ihm an die Brüstung. Unten im Hafen waren die kleineren Boote an Land gezogen worden und Arbeiter waren dabei, die gröÃeren Schiffe zu sichern. Mit zum ReiÃen gespannten Segeln fuhren weitere Schiffe vom offenen Meer aus in Richtung Hafen. »Sehen Sie nur â Ihr Wetterglas rettet Leben, Lord Umber. Das freut Sie doch bestimmt«, meinte Hap. Umber reagierte nicht.
Der Wind hatte die Wasseroberfläche in der Bucht von Kurahaven in eine Million schäumende Wellenkämme verwandelt. Hap taten die Finger weh, und er bemerkte, dass er sich mit aller Kraft am Geländer festklammerte.
Auf seinem Gesicht zerplatzten die ersten Regentropfen. »Kommen Sie besser rein, Lord Umber. Möchten Sie vielleicht mit in die Küche kommen? Balfour kann uns etwas zu â¦Â«
»Lass mich einfach in Ruhe«, sagte Umber.
»Aber â¦Â«
»Lass mich in Ruhe«, bekräftigte Umber mit lauterer Stimme. Er rieb sich mit dem Handballen über die Schläfe.
Hap zog sich zurück und trottete zur Treppe, als er hörte, dass ihm jemand schnellen Schrittes entgegenkam. Als Lady Truden auf die Terrasse eilte, duckte er sich hinter ein mit Weinranken bewachsenes Spalier. Sobald sie vorbei war, schlich er nach unten in sein Zimmer. Dort stellte er sich ans Fenster und beobachtete das Unwetter. Der zunehmende Sturm wurde noch dadurch verschlimmert, dass er genau in die Hafeneinfahrt blies und die Berge zu beiden Seiten der Bucht keinen Schutz boten.
Hap hatte seine Tür offen gelassen, so dass er deutlich hörte, wie Lady Truden die Treppe herunterkam und ihre Zimmertür hinter sich zuknallte. Trotz des Sturms, der laut durch eine Fuge in Haps Fenster pfiff, konnte er ihr klagendes Weinen hören.
Das Unwetter machte Hap zwar Angst, aber es faszinierte ihn auch, weshalb er sein Fenster trotz des heftigen Regens offen lieÃ. Er zog sich einen Stuhl an die Fensterbank und sah zu, wie es dunkel wurde. Es war eine geniale Idee, die Fenster als Augen eines in den Felsen gemeiÃelten Gesichts zu konstruieren. Der Regen lief an den Seiten der Augen ab, so dass das Gesicht zu weinen schien.
Der Sturm und die Wellen donnerten über Petraportus hinweg. Hap hoffte, dass es dem namenlosen Fischer und seiner Frau gut ging. In den Docks und in den StraÃen Kurahavens war niemand zu sehen. Als ein Zelt im Hafen davongeweht wurde, fragte er sich, ob Tuchmacher Poncius und die anderen Händler ihre Waren in Sicherheit gebracht hatten.
Gegen Mitternacht hatte sich die Stärke des Unwetters verdoppelt. Hap starrte auf das Wasser hinaus. Er wusste, dass er dank seiner Nachtsicht der Einzige war, der den neuen Notfallinmitten der wogenden See bemerkte: Ein kleines Boot versuchte verzweifelt, den sicheren Hafen zu erreichen.
Er drückte das Gesicht zwischen die Gitterstäbe vor seinem Fenster, um besser sehen zu können. Zwei Menschen waren an Bord, ein Mann und ein Junge, wahrscheinlich Vater und Sohn. Das Boot hatte nur einen Mast, und von dem Segel waren nur Fetzen übrig. Während Hap zusah und mühsam die vielen Regentropfen wegblinzelte, rissen die letzten Reste des Segels ab und flatterten aufs Land zu. Der Mann bemühte sich, das Boot mit einem einzigen langen Ruder auf Kurs zu halten, doch es schaukelte wild hin und her und das rettende Ufer war noch eine unüberwindliche halbe Meile entfernt. Der Junge umklammerte die Hüfte des Mannes und hatte das Gesicht in dessen Hemd vergraben. Hap war klar, dass man nichts für sie tun konnte. Kein Schiff konnte es wagen, auszulaufen, um sie zu retten.
Eine schäumende, graue Welle türmte sich auf, neigte sich über dem Boot und brach. Einen Augenblick lang verschwand das Gefährt, tauchte dann aber wieder auf. Der Mann hatte das Ruder verloren, lag
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