Der geheime Auftrag des Jona von Judaea
in der Wirklichkeit die Tinte nicht wert war, mit der es auf einer Schriftrolle geschrieben stand. Denn viele Tagelöhner und Bauern, die Jahr für Jahr um ihr Überleben kämpften, konnten es sich gar nicht leisten, ihre Scholle zu verlassen, mit ihrer Familie nach Jerusalem zu reisen und wochenlang ihrem Hof und Herd fernzubleiben. Viele empfanden es schon als großes Glück, wenn die Lebensumstände es ihnen alle zehn Jahre erlaubten, diese Pilgerreise zu unternehmen. Und nicht wenigen gelang es sogar nur einmal in ihrem Leben. Als sein Vater noch ein eigenes Stück Land besessen hatte, war ihm dieser Aufwand nie möglich gewesen. Und später bei Berechja hatte der Gutsbesitzer sich strikt geweigert, sie für die Dauer einer Pilgerreise von ihren Pflichten zu entbinden, damit sie sich auf die Wallfahrt machen konnten. Das stehe einem Schuldsklaven nicht zu, hatte er sie kühl abfahren lassen, und das Passah-Fest sollten sie gefälligst dann in Jerusalem feiern, wenn sie ihre Schuld abgetragen hatten und ihm nicht länger zur Last fielen.
Nun aber stand er endlich in den Mauern Jerusalems und er staunte nur so über das unglaublich farbenfrohe Gedränge. Man sah auf den Straßen und Gassen Menschen aus scheinbar jedem Land der Erde in ihrer ganz eigenen Tracht, dazu Bauern und Hirten, Kameltreiber und Söldner, Seeleute und Händler, Handwerker und Laufburschen, verschleierte Frauen und herausgeputzte Dirnen, teuer gewandete Priester und Vornehme. Dazu immer wieder mit Knüppeln bewehrte Büttel des Hohen Rates, die zu zweit ihre Runde durch ihr Viertel machten, nach Dieben Ausschau hielten, den gelegentlich stockenden Verkehr wieder in Gang brachten und einschritten, wenn irgendwo an einer Ecke oder in einer Taverne Streit ausbrach. Und natürlich traf man fast auf Schritt und Tritt auf römische Soldaten, die den Juden in Erinnerung bringen sollten, dass Rom über diese Stadt und diese Provinz herrschte. Aber ihnen begegneten auch viel Bettelvolk und zerlumpte Gestalten, die ihr Gesicht völlig bedeckt hielten, was die Vermutung nahe legte, dass sie von Aussatz 47 befallen waren. Und deshalb machte ein jeder einen großen Bogen um diese Leute, um mit ihnen bloß nicht in Berührung zu kommen.
Jona hatte noch nie zuvor Häuser gesehen, die mehrere Stockwerke hoch reichten. Hier fiel sein Blick überall auf solche Wohn- und Geschäftshäuser. Sogar in den ärmeren Vierteln waren anderthalb bis zwei Stockwerke eher die Regel als die Ausnahme.
Großes Staunen riefen bei ihm auch die schier endlos langen Reihen von Läden und Verkaufsständen hervor, die eine Straße nach der anderen säumten und die Waren aus aller Welt in ihrem Angebot hatten. Prachtvolle Stoffe, wie sie auch einem König gut zu Gesicht gestanden hätten, kostbare Teppiche, mit funkelnden Steinen besetzte Dolche, rubinrote und smaragdgrüne Glaswaren von atemberaubend zerbrechlicher Schönheit, mit Mosaiken geschmückte Amphoren, aus Kupfer oder gar Silber gehämmerte Schalen, Becher und Töpfe, marmorne Statuen jeder Größe und was es da sonst noch alles gab! Vieles davon hatte er noch nie zuvor in seinem Leben zu sehen bekommen. Allein die Gewürzhändler, die dutzende Säcke mit verschiedenen Gewürzen, Kräutern und anderen fremdartigen Waren ausgestellt hatten! Dazu all die vielen Duftstoffe und Salben. Da roch es nach Myrrhe, Weihrauch, Koriander, Salbei, Jasmin, Lavendel, Rosenblättern, Sandelholz und anderem, was er gar nicht zu benennen wusste!
Und wenn man von den großen Hauptgeschäftsstraßen abbog, die Jerusalem im Schachbrettmuster durchschnitten, und sich in das verzweigte und nicht weniger betriebsame Gassengewirr wagte, merkte man, dass jedes Viertel von einem anderen Handwerk dominiert wurde. In dem einen drängten sich die Tuchhändler, im nächsten traf man auf die Weber, im darauf folgenden hatten die Ledermacher ihre Werkstätten, wieder ein Viertel weiter saßen die Korbflechter und Fassbinder. An anderer Stelle hatten sich Färber und Buntwirker niedergelassen. Auch die Getreide-, Oliven- und Obsthändler scharten sich umeinander, und so taten es die Bäcker und die Schächter, die Fischhändler und die Sirupkocher, die Käsemacher und die Weinhändler. Und so ging es in einem fort, als müssten diese Viertel die ganze Welt ernähren und mit ihren Waren versorgen.
»Komm, ein Wort unter Männern, Jona!«
Esra stand plötzlich neben ihm und legte ihm seinen Arm vertraulich um die Schulter, als wären sie die besten
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