Der geheime Basar
Sekunden von null auf hundert beschleunigen», gab Nilu die Anweisungen, während ich Bleistiftskizzen kritzelte, die Relation zwischen Ober- und Unterarmlänge der vorderen Aufhängung berechnete. Wir beide quasselten ohne Ende, und Schnecke schwieg. Er war ein Profi; Experte für Getriebe und sogar ein geübter Schweißer. «Du bist unsere Rettung, Schnecke», sagte ich, und er errötete. Er war systematisch. «So wenige Erfindungen wie möglich», forderte er immer, «keine Improvisationen. Vier Verbindungspunkte für den Rahmen. Die Achse muss absolut vertikal sein, sonst ist die Steuerung eingeschränkt.» Und schon hatten wir alle Teile in Reih und Glied, der Sieg war nahe.
Es waren schöne Tage. Am Sonntag, bevor er verschwand, saßen wir – Babak, Schnecke, Nilu und ich – in dem Café, wo sich die ausländischen Diplomaten tummelten, in der Lobby des Hotel Laleh, das Zahra und Frau Safureh immer noch Intercontinental nannten. Diese Diplomaten waren überzeugt, dass wir mindestens unsere halbe Seele dafür geben würden, um mit ihnen auf und davon zu fliegen, und dass wir alle ihre Anwesenheit schätzten, doch nein, ich sagte stolz zu ihnen: «Ich bin Iraner und bleibe Iraner, ich werde niemals eine Wahl haben, und das ist mir recht so.» Ich schloss mich der Tischgesellschaft der japanischen Botschafterin an und ereiferte mich: «Ein Leben mit solch ungeheurer Bedeutung wie hier werden wir nirgendwo anders bekommen. Ich werde natürlich manchmal unserer Realität müde, auch meiner Mutter werde ich manchmal müde, aber keine Chance, dass ich eine von ihnen deshalb austauschen würde. In welchem anderen Land sonst lebt und beschäftigt man sich den ganzen Tag mit existenziellen Fragen und versucht zu verstehen, warum man eigentlich zu ihm gehört? Das ist ein großer Vorzug», erklärte ich. «Wir haben eine größere Verantwortung als nur für uns selbst.» Solche Reden schwang ich. Schnecke war stolz auf mich, aber Nilu brachte ich in Verlegenheit; entschuldigend lächelte sie zum Tisch der Japaner hinüber.
Doch es waren schöne Tage. Die Stadt war eine endlos tobende Sendestation, und wenn Nilu bei mir war, hörte ich nur gute Nachrichten. Ich zog den kalten Stahlpanzer aus, zerriss die enggeknüpften Netze und schlüpfte heraus, wollte in einem unendlichen Strom von Gelegenheiten und Sensationen strudeln und fliegen, überallhin, wo es mich gerade hinzog. Ich hatte das Gefühl, die Welt hob ab.
Am Montag, bevor er verschwand, kehrte ich gegen Abend aus der Uni zurück. Babak stand mit Zahra und der alten Dame im Hausflur, um ein kleines, spiegelnd neues schwarzes Moped herum, und streichelten den gepolsterten Plastiksitz unter dem wachsamen Auge Mas’ud Nadschafians, der über den Treppenschacht von oben herunterspähte. «Was ist das?», fragte ich. Und Frau Safureh schwenkte eine Sahnetorte in die Höhe und schrie: «Geburtstag!» Babak setzte mir einen roten Helm auf und umarmte mich. Ich glaube, ich war traurig vor lauter Rührung. Ich hatte gar keinen Mopedführerschein, und mein Geburtstag war erst morgen – doch Zahra hatte es nicht mehr erwarten können. «Ihr seid verrückt geworden!», rief ich kopfschüttelnd. Es lag dicker, nasser Schnee in jener Nacht, die Verkehrsadern waren blockiert und die Kälte grimmig. Wir blieben in unserem Iglu eingeschlossen, bedienten uns bis zur Bewusstlosigkeit an harten Getränken und dummen Filmclips. Windböen prallten gegen den dunklen Bergkamm, der aussah, als sei dort die Welt zu Ende, rutschender Schnee erschütterte das kleine Balkonvordach und jagte Chamad, den Kater, in die Höhe, der mit einer Grimasse ohnmächtiger Wut von einem Versteck zum anderen hüpfte, Sofas und Teppiche zerkratzte. Chamad war ein dicker Winterpelz gewachsen, der noch mehr Lust machte, ihn zu knuddeln, er hatte keine Ruhe vor uns, war die Aufziehpuppe der Clubmitglieder. Zwischen Streicheln und Schnurren zischte Frau Safureh: «Eine kalte, böse Maschine ist dieser Kater.» Babak machte Fladenbrot warm, legte kratzige Wolldecken über unsere Knie, und Zahra schnüffelte den schwachen Geruch nach Wachs, das von den bunten Kerzen in kleine Kristallleuchter tropfte. Feine Eisnadeln wirbelten im Wind. Um Mitternacht hatte sich das Ganze bereits zu einer trüben, pulvrigen Schicht auf dem Balkongeländer gewandelt. Ich war nicht fähig, weiter auf eine Besserung des Wetters oder gar auf den Führerschein zu warten, ich musste die weiße Stadt auf dem Moped einweihen. Ich
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