Der geheime Basar
man auch sie eines Tages hier begraben würde. Für eine Weile bestand eine Nähe zwischen uns wie zwischen zwei erwachsenen Menschen. Sie sagte zu mir: «Kami, ich danke dir, mein junger Mann.»
«Wofür, Tante?»
«Ich war ein Schatten meiner selbst, bevor du gekommen bist.»
Ich fragte mich, ob das eine Zeile aus einem ihrer Filme war, und ob sie es dennoch so meinte, von Herzen? Es tat mir gut, das von ihr zu hören, ich hatte überhaupt so ein Gefühl, dass etwas Gutes in der Luft lag.
Zwei weißgestrichene Metallsäulen ragten vor uns empor, verkreuzten sich über dem Grabmal und trugen in ihrer Mitte das Bild, auf dem ich nun endlich selbst die Ähnlichkeit zu sehen vermochte, von der Zahra immer sprach. Wir hatten den gleichen Blick. Über dem Bild war eine verblichene Fahne an der Metalleinfassung befestigt, und darunter ruhte ein Koran auf dem Stein. In den ersten Jahren war Zahra zu Neujahr und gegen Frühlingsbeginn immer mit Jasminsträußen gekommen. Später, nachdem sie sich ein paar Gedanken darüber gemacht hatte, sah sie keinen Sinn mehr darin, sich weiter mit den spähenden Blicken auseinanderzusetzen, die nur Verachtung enthielten.
«Hast du gewusst, Kami, dass unser Arian drei Jahre in einer Anstalt für jugendliche Kriminelle verbracht hat?», fragte Zahra mit einem warmen Lächeln. «Das waren die Zeiten zweifelhafter Versuchungen, er hatte bunte Karnevalshemden, ein Lachen, als hätte er Drogen geschluckt, und die Geschmeidigkeit eines russischen Zirkuskünstlers – wie ich ihn geliebt habe!»
Es begann zu nieseln. Ich wollte sie umarmen, und sie flüsterte mir zu: «Hauptsache, du bist voller Hoffnung, solange du kannst», als fassten diese Worte all ihre Gedanken zusammen. Und um uns herum, neben parolenverzierten Plakaten, eingerissenen und vergilbten Nachrufen, starrte uns ein endloses Meer von Kinderporträts an, die Gesichter schon verblasst, gefangen hinter Glas, eine massenhafte Einsamkeit, die mich in Bann schlug. Schließlich sprang mir das Todesdatum des Gefallenen Arian Chazuri ins Auge. Zwei Jahre, bevor ich geboren wurde. So war es eingraviert. Wie konnte das sein? Ich erinnerte mich an jeden Augenblick jenes Tages, an dem er gestorben war. Wie meine Eltern zum Begräbnis aufgebrochen waren, mich allein zurückgelassen hatten, und an den Nachmittag mit dem kleinen Amir, dem Mistkerl, und an meine stillen Gedanken über den Tod. «Zahra, ich erinnere mich an den Tag», sagte ich zu ihr.
«Sicher erinnerst du dich», antwortete sie mit sanfter, vieldeutiger Stimme, als zwinkerte sie heimlich dabei, doch sie fügte nichts hinzu, sondern blickte wieder auf ihren Ehemann. Ich rang mit mir, ob ich weiterbohren sollte, denn ich wusste, sonst würde ich noch verrückt im Kopf vor lauter Grübeln, sogar die Möglichkeit, dass meine Eltern mein Alter gefälscht hatten, erwog ich, doch wieso hätten sie das tun sollen?
Es war bereits Abend. Das Gesicht des Präsidenten blickte uns von einem Hochglanzplakat entgegen, er zeigte seine Zähne. Was hatte er zu lächeln? Das weiß nur Gott. Das Licht wurde trübe und zog sich zurück, eine Sturzflut nahte, und wir gingen. Zahra sagte: «Ich liebe dich, mein Junge», und leichte Röte färbte ihre weichen Wangen, in Kontrast zu ihrem kühnen Blick. Auf der Rückfahrt, in der Metro, schwiegen wir.
19
Zwei Wochen vor Neujahr verschwand Babak.
Die Tage, bevor Babak verschwand, waren unsere glücklichsten. Schnecke kam häufig in die Stadt, und Babak erwartete ihn immer am Hauptbahnhof, wie ein verliebter Junge, saß dort ganze Abende unter den massiven weißen Steinsäulen. Soldaten rannten durch das Gebäude, kontrollierten Ausweise, durchwühlten Taschen. Sie wussten nicht, dass das wahre Geheimnis direkt vor ihrer Nase saß, auf einer wackligen blauen Plastikbank wippte und lächelte. Wenn Schnecke eintraf, drückte er seinen kleinen Homo in einer freundschaftlichen, unverdächtigen Umarmung an sich, kurz und knapp, dann zog er mit ihm ab, um die Dinge zu tun, die Paare eben tun, um dann mit ihm zusammen einzuschlafen. Auch Nilu und ich nahmen Schnecke in Beschlag. An seinen kurzen Urlaubstagen kam er zu uns in die Garage, beugte sich mit einem Glas kochend heißem Tee in der Hand über den Motor und spielte mit den Drähten. Half uns, einen alten Peugeot auszuschlachten, mischte Teile eines Rasenmähermotors darunter und strich mit den Händen erfreut über die neuen magnesiumlegierten Platten. «Der Wagen muss innerhalb von vier
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