Der geheime Brief
Bibel und ihrer Botschaft, darauf gebe ich nicht viel. Nicht, wenn die Bibelkundigen sich schlimmer aufführen als die Schlimmsten der Schlimmsten und die Würde anderer verletzen. Nein, dieser Gottesglaube, der ist zu erbärmlich für mich. Ich weiß, was du über deine Mutter und deinen Vater erzählt hast, und ich glaube gern, dass sie gute Menschen sind. Aber das wären sie sicherlich auch ohne Bibel. Und du auch. Wenn ich wieder glauben soll, dann brauche ich ein Zeichen. Gott muss mir beweisen, dass es ihn gibt. Es reicht nicht, dass der Pfarrer kurz vor meiner Abreise tot auf dem Kirchenboden lag. Einige Landstreicher waren eingebrochen und hatten zugelangt. Ich trauere nicht um ihn. Aber Gott … ja, bis auf Weiteres muss die himmlische Allmacht ohne mich zurechtkommen.«
Ich schlang ein Band um den Zopf und küsste sie in den Nacken. Lea streckte die Hand über ihre Schulter aus, und ich
nahm und drückte sie. Wer war ich, um sie zu verurteilen? Dass Lea ihr Zeichen erhalten würde, konnte ich damals nicht ahnen. Das Zeichen, das alles veränderte, auch uns beide. Woher kam es? Das weiß ich noch immer nicht.
Aber ich weiß, was geschah, als Ottos den Geburtstag ihres ältesten Sohnes mit einem Essen feiern wollten. Kartoffeln, Butter und Mehl waren mittlerweile spürbar knapp. Immer mehr halfen sich mit Rüben aus, wenn sie konnten, oder holten sich eimerweise Suppe in den öffentlichen Küchen. Der Umgang mit den Rationierungskarten war eine Wissenschaft für sich, und der freiverkäufliche Alkohol im Feinkostladen war nur noch eine Erinnerung. Die Lebensmittelkarten schienen auf Dauer eingeführt worden zu sein. Ottos hatten zwar Beziehungen, aber niemand konnte zaubern, wenn es keine Rohwaren gab. Also mussten auch wir am Essen sparen.
Lea und ich liefen durch die ganze Stadt, um alles zu besorgen, was für das Essen benötigt wurde. Wir mussten in einem Haus Muscheln holen, in einer abgelegenen Bude eine frisch geschossene Ente, etliche Waren fanden wir in der Markthalle, wenn auch zu Kriegspreisen. Die Getränke hatte Carl Otto besorgt, im Tausch gegen ein Paar elegante Damenschuhe, die der beste Weinhändler der Stadt verlangt hatte. Das wussten wir von Edvard, der die Herrlichkeiten nach Hause geschafft hatte. Aber den Rest sollten wir besorgen und Signe aushändigen, die uns hacken, schneiden und kneten ließ. Gedeckt wurde mit Leinendecken, dem besten Porzellan und Kerzenleuchtern.
Für uns galten detaillierte Verhaltensregeln. Das Personal sollte lautlos sein und so achtsam, dass niemand mit Worten oder Blicken eingreifen müsste. Wir sollten von links servieren, und immer kam die vornehmste Dame als Erste an die Reihe. Wir sollten vor diesem Dinner eine warme Mahlzeit mit Tee
erhalten. Wir nickten und prägten uns alles ein, und wir dachten doch beide nur an das eine. Wir würden nicht hungrig servieren müssen.
Ich sollte öffnen und die Gäste empfangen. Ich knickste und lächelte und überzeugte mich im Spiegel davon, dass mein Spitzenhäubchen auf meinem Kopf ordentlich befestigt war. Fridolf und Tor mit ihren Familien kamen gleichzeitig. Ich bat sie in den Salon, wo Lea sie mit Erfrischungen versorgte. Amanda Otto trug eine moderne Skunkboa. Sie begrüßte die Gäste, fand aber auch die Zeit, uns zu tadeln, weil das Besteck Wasserflecken aufwies. Carl Otto lehnte am Bücherregal und musterte seine Verwandtschaft. Ab und zu stahl sich sein Blick zu Lea hinüber, aber offenbar ohne Hintergedanken, nur traurig.
Fridolf sprach über den Krieg in den Schützengräben und die fünfte deutsche Armee, die soeben einen Angriff auf die Befestigungen vor Verdun begonnen hatte. Es war ein grauenhaftes Gemetzel, und die deutschen Erfolge erschütterten alle, die zur Entente hielten. Würden die französischen Linien durchbrochen werden? Fridolf befürchtete das, und Amanda Otto redete sich in Rage.
»Das zeigt nur, dass wir uns so bald wie möglich für Deutschland erklären sollten. König Gustaf war gut beraten, als er Italien und Rumänien am Kriegseintritt auf Seiten der Entente hindern wollte. Wenn der König etwas zu sagen hätte, wäre Schluss mit dieser törichten Neutralität. Aber es ist nur eine Frage der Zeit. Die englischen Schikanen gegen die schwedische Seefahrt sind unvorstellbar …«
»Du vergisst, dass die deutschen Übergriffe genauso brutal sind und dass wir hierzulande keine königliche Außenpolitik haben wollen. Oder einen König, der sich seine Reden von einem Herrn
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