Der geheime Garten
antwortete Mary in verächtlichem Ton. »Das habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getan. Meine Ayah mußte mich natürlich anziehen.«
»Na, dann wird's aber höchste Zeit, daß du es lernst.« Martha hatte nicht das Gefühl, unverschämt zu sein. »Je eher du damit anfängst, desto besser für dich. Meine Mutter sagt immer, es sei ein Wunder, daß reicher Leute Kinder nicht zu Narren würden. Kinderfrauen müßten sie waschen und anziehen und wie junge Hunde spazieren führen.«
»In Indien ist das etwas ganz anderes«, sagte Mary mit großer Verachtung. Sie fand Marthas Bemerkung fast unerträglich, kaum auszuhalten.
Aber Martha ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Ich sehe schon«, sagte sie fast sanft, »es ist wirklich alles anders in Indien.«
»Jetzt wird es aber Zeit, daß du aufstehst«, sagte sie. »Mrs. Medlock hat angeordnet, daß ich dein Frühstück und Tee und Mittagessen im Zimmer nebenan auftragen soll. Es ist als Spielzimmer für dich ausgesucht worden. Ich helf dir auch beim Anziehen, wenn du jetzt schön aufstehst. Wenn hinten Knöpfe sind, kannst du sie ja gar nicht selbst zumachen.«
Als Mary sich schließlich aufzustehen bemühte, holte Martha andere Kleider aus dem Schrank als die, die Mary am vergangenen Abend getragen hatte.
»Die gehören nicht mir«, sagte Mary. »Meine sind schwarz.« Sie sah den warmen weißen Wollmantel an und das helle Kleid und urteilte kühl: »Die da sind schöner als meine.«
»Die sollst du auch anziehen«, antwortete Martha. »Mr. Craven hat Mrs. Medlock beauftragt, sie in London für dich zu kaufen. Er hat gesagt, er möchte nicht, daß ein Kind in seinem Hause in schwarzen Trauerkleidern herumläuft wie eine arme, verlorene Seele. Es würde das Haus noch trauriger machen, als es schon wäre. Sie soll frische Farben tragen , sagte er. Meine Mutter hat gemeint, sie verstände gut, was er fühlt. Meine Mutter versteht immer, was andere empfinden. Sie selbst hält nichts von schwarzen Sachen.«
»Ich hasse schwarze Kleider«, sagte Mary.
Beim Ankleiden lernten sie beide etwas. Martha hatte zu Hause ihren kleinen Schwestern und Brüdern beim Zuknöpfen geholfen. Aber sie hatte noch nie ein Kind gesehen, das sich hinstellte und wartete, daß jemand sie anzöge, so, als hätte es selber weder Hände noch Füße.
»Warum ziehst du die Schuhe nicht selber an?« fragte sie, als sie sah, daß Mary nur ihren Fuß ausstreckte.
»Das hat immer meine Ayah gemacht«, sagte Mary gleichmütig. »Das war so Sitte.«
Sie sagte sehr oft: »So ist es Sitte.« Die indischen Eingeborenen selber hatten auch so geredet. Wenn jemand irgend etwas Ungewohntes von ihnen erwartete, etwas, das ihre Vorfahren Tausende von Jahren vor ihnen nicht getan hatten, sagten sie: »Das ist nicht Sitte.« Und damit war der Fall für sie erledigt. Es hätte nicht zur Sitte gepaßt, wenn Mary beim Ankleiden irgend etwas anderes getan hätte als stillzustehen und zu dulden, daß sie wie eine Puppe angekleidet wurde. Aber noch ehe sie dazu kam, ihr Frühstück zu essen, begann sie zu ahnen, daß ihr Leben im Herrenhaus Misselthwaite sie eine Menge Dinge lehren würde. Wenn Martha die Jungfer einer wohlerzogenen jungen Dame gewesen wäre, würde sie vielleicht unterwürfiger und respektvoller gewesen sein und würde gewußt haben, daß es zu ihren Pflichten gehört hätte, Haare zu bürsten, Schuhe zuzuknöpfen und Ordnung zu schaffen. Martha war aber nur ein einfaches Landmädchen aus Yorkshire, das in einer Moorhütte aufgewachsen war, umgeben von einem Schwärm kleiner Brüder und Schwestern, die selbstverständlich auf sich selber aufpaßten. Die Kleinen wurden auf dem Arm getragen; sobald sie jedoch etwas größer wurden, tappelten sie selbständig herum und stolperten über alle möglichen Dinge.
Wäre Mary Lennox ein Kind gewesen, das sich über ein bißchen Unterhaltung freute, so hätte sie vielleicht ihre Zufriedenheit über Marthas Erzählerfreude gezeigt, aber Mary hörte nur kühl zu und wunderte sich über die freie Art des Mädchens. Zuerst war Mary wirklich nicht interessiert. Aber als Martha nicht aufhörte, in ihrer fröhlichen, anheimelnden Art zu plappern, hörte sie schließlich doch zu.
»Ja, du solltest sie alle einmal sehen«, sagte Martha. »Wir sind zu Hause zwölf Kinder, und mein Vater verdient nur sechzehn Shilling die Woche. Ich sage dir, meine Mutter muß gut aufpassen, damit sie für alle Kinder Haferbrei hat. Sie tummeln sich den ganzen Tag draußen
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