Der geheime Garten
den Satz noch nicht beendet, als die Tür geöffnet wurde und Mrs. Medlock ins Zimmer trat. Sie trug ihr bestes schwarzes Kleid und ihre Haube. Ihr Kragen wurde von einer großen Brosche zusammengehalten, auf der ein Männerbildnis war, eine farbige Fotografie von Mr. Medlock, der vor Jahren gestorben war. Sie trug die Brosche immer, wenn sie sich fein machte.
»Dein Haar ist unordentlich«, sagte sie rasch. »Geh und bürste es. Martha, hilf ihr in ihr bestes Kleid. Mr. Craven hat mich geschickt. Ich soll sie zu ihm bringen.«
Alles Blut wich aus Marys Wangen. Ihr Herz begann wild zu schlagen. Sie fühlte, daß sie wieder steif und trotzig und hilflos wurde. Sie antwortete Mrs. Medlock nicht, sondern ging, gefolgt von Martha, in ihr Schlafzimmer. Sie sagte auch nichts, als ihr ein anderes Kleid angezogen und ihr Haar gebürstet wurde. Als sie dann ordentlich aussah, folgte sie Mrs. Medlock schweigend durch die Korridore. Was sollte sie auch sagen? Mr. Craven würde sie sicher nicht mögen, und sie würde ihn nicht ausstehen können. Sie wußte schon im voraus, was er von ihr denken würde.
Sie wurde in einen Teil des Hauses geführt, in dem sie noch nie gewesen war. Mrs. Medlock klopfte an eine Tür, und als drinnen jemand »herein« sagte, traten sie ein. Ein Mann saß im Sessel vor einem Kamin, und Mrs. Medlock redete ihn an.
»Dies ist Miß Mary, Sir«, sagte sie.
»Gehen Sie bitte und lassen Sie sie hier. Ich werde klingeln, sobald ich sie brauche«, sagte Mr. Craven.
Als Mrs. Medlock gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, konnte Mary nur wartend dastehn, ein hilfloses, kleines Ding, das verlegen seine Hände rieb. Sie sah, daß der Mann im Sessel keinen Buckel hatte. Seine Schultern waren bloß sehr hoch und gekrümmt. Er hatte schwarzes Haar mit weißen Strähnen. Jetzt drehte er ihr über die Schultern hinweg sein Gesicht zu.
»Komm näher«, sagte er. Mary ging zu ihm.
Er war nicht häßlich. Sein Gesicht wäre sogar schön gewesen, wenn er nicht so traurig dreingeblickt hätte. Er sah aus, als ob es ihn beunruhigte und bedrückte, sie anzusehen, und als ob er beim besten Willen nicht wüßte, was er mit ihr anfangen sollte.
»Geht es dir gut?« fragte er.
»Ja«, antwortete Mary.
»Paßt du gut auf dich auf?«
»Ja!«
Er rieb sich besorgt die Stirn, während er sie anschaute.
»Du bist sehr dünn«, sagte er.
»Ich bin schon dicker geworden«, sagte Mary steif.
Was für ein unglückliches Gesicht er hatte! Seine schwarzen Augen schienen sie gar nicht richtig zu sehen. Als ob sie in Wirklichkeit etwas anderes sähen und als ob seine Gedanken nicht bei ihr wären.
»Ich hatte dich vergessen«, sagte er. »Wie hätte ich mich auch an dich erinnern sollen! Ich wollte eigentlich eine Erzieherin oder Kinderfrau für dich anstellen, aber dann habe ich es vergessen.«
»Bitte«, begann Mary. »Bitte« — ein Klumpen in der Kehle würgte sie.
»Was wolltest du fragen?« sagte er.
»Ich — ich bin zu groß für eine Kinderfrau«, sagte Mary. »Und bitte, bitte, bestellen sie doch auch keine Erzieherin!«
Er starrte sie an. »Das ist genau das, was Frau Sowerby auch meinte«, sagte er.
Mary faßte Mut. »Ist sie — ist sie Marthas Mutter?« stammelte sie.
»Ja, ich glaube, ja.«
»Sie weiß alles über Kinder«, sagte Mary. »Sie hat zwölf. Sie weiß Bescheid.«
Er schien lebhafter zu werden. »Was hast du denn vor?« fragte er.
»Ich möchte draußen spielen.« Mary hoffte, daß ihre Stimme nicht zitterte. »In Indien lag mir nichts daran. Aber hier macht es mich hungrig, und ich werde dicker.«
Er beobachtete sie. »Frau Sowerby sagte, es würde dir guttun. Vieleicht hat sie recht«, meinte er. »Sie schlug vor, daß du erst kräftiger werden solltest, bevor wir eine Erzieherin anstellen.«
»Ich fühle mich kräftig, wenn ich draußen spiele und der Wind vom Moor kommt.«
»Wo spielst du denn?«
»Überall.« Mary schnappte nach Luft. »Marthas Mutter hat mir ein Seil geschenkt. Ich springe Seil und renne. Und ich sehe nach, ob Blumen aus der Erde kommen. Ich tue nichts Dummes.«
»Du brauchst nicht so ängstlich dreinzuschauen«, sagte er mit seiner traurigen Stimme. »Was sollte ein Kind wie du denn Dummes tun? Du darfst machen, was dir gefällt.«
»Darf ich wirklich?« fragte sie erregt.
»Sieh mich nicht so erschrocken an«, sagte er. »Natürlich darfst du. Ich bin dein Beschützer, wenn auch kein guter. Nein, kein guter Beschützer — für welches Kind
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