Der geheime Garten
von seinem Brot abgebissen hatte. Aber irgendwie brachte er es trotzdem fertig, ermutigend zu lächeln. »Wenn eine Drossel mir ihr Nest zeigte, glaubst du, ich würde so etwas verraten? Ich nicht!« sagte er.
»Du bist so sicher wie die Drossel.«
Und sie fühlte, daß es so war.
Dürfte ich ein bißchen Erde haben?
Mary rannte so schnell, daß sie ganz außer Atem in ihr Zimmer trat. Ihr Essen stand schon auf dem Tisch, und Martha wartete auf sie. »Du kommst ein bißchen spät«, sagte sie. »Ich habe Dickon gesehen«, rief Mary.
»Dachte ich's mir! Er mußte kommen«, sagte Martha frohlockend. »Wie findest du ihn?« »Ich finde ihn schön«, sagte Mary mit fester Stimme. Martha schaute sie etwas erstaunt an, war aber sehr zufrieden. »Auf alle Fälle«, sagte sie, »ist er der beste Junge, der je gelebt hat. Aber daß er hübsch ist, habe ich eigentlich nie bemerkt. Er hat doch eine Stupsnase.« »Ich mag Stupsnasen.«
»Und seine Augen sind so rund«, meinte Martha zweifelnd. »Allerdings haben sie eine schöne Farbe.«
»Ich mag sie rund«, sagte Mary. »Und sie haben genau die Farbe des Himmels über dem Moor.« Martha strahlte.
»Mutter sagt, sie haben diese Farbe, weil er immer hinaufschaut, um Vögel und Wolken zu beobachten. Aber ist sein Mund nicht zu groß?« »Ich liebe seinen großen Mund. Ich wollte, meiner wäre auch so.« Martha kicherte entzückt.
»In deinem kleinen Gesicht würde er komisch aussehen. Aber ich dachte mir schon, daß Dickon dir gefallen wird, wenn du ihn siehst. Und wie haben dir der Samen und die Gartengeräte gefallen?« »Woher wußtest du denn, daß er sie bringen würde?« »Ich hätte nie gedacht, daß er sie nicht bringen würde. Er ist ein verläßlicher Junge.«
Mary fürchtete, Martha würde schwierige Fragen stellen, aber sie tat es nicht. Sie interessierte sich für den Blumensamen und die Gartengeräte und erschreckte Mary nur einmal, als sie fragte, wo die Blumen eigentlich stehen sollen.
»Wen hast du gefragt?« forschte sie.
»Niemanden«, sagte Mary zögernd.
»Nun, den Obergärtner würde ich auch nicht fragen, der ist zu großartig. Ja, zu großartig ist Mr. Roach.«
»Ich habe ihn noch nie gesehen«, sagte Mary. »Ich habe nur Untergärtner gesehen und Ben Weatherstaff.«
»Ich an deiner Stelle würde Ben Weatherstaff fragen«, rief Martha. »Er ist nur halb so schlimm, wie er aussieht. Er ist ein Querkopf. Mr. Craven läßt ihn tun, was er will, denn er war schon hier, als Mrs. Craven noch lebte, und er konnte sie zum Lachen bringen. Sie liebte ihn. Vieleicht findet er für dich ein Eckchen, wo du dir einen Garten anlegen kannst.«
»Wenn er abseits läge, und wenn ich keinem im Wege wäre, hätte doch sicher niemand etwas gegen meinen Garten?« sagte Mary ängstlich.
»Dafür wäre kein Grund vorhanden«, antwortete Martha; »du tätest ja nichts Schlimmes.«
Mary verschlang ihr Mittagessen, so schnell sie nur konnte. Dann stand sie auf und rannte in ihr Zimmer, um rasch wieder ihren Hut aufzusetzen. Doch Martha hielt sie fest.
»Ich muß dir etwas mitteilen«, sagte Martha. »Aber erst wollte ich dich essen lassen. Mr. Craven ist heute morgen zurückgekommen und möchte dich sehen.«
Mary wurde blaß.
»Oh«, sagte sie. »Warum denn? Er wollte mich doch nicht sehen, als ich ankam. Ich hab' gehört, wie Pitcher sagte: Er will sie nicht sehen. «
»Ja«, nickte Martha, »aber Mrs. Medlock sagt, es ist wegen meiner Mutter. Sie ging ins Dorf und begegnete Mr. Craven. Sie hatte noch nie mit ihm gesprochen. Aber die junge Mrs. Craven war früher ein paarmal bei uns. Er hatte es nicht vergessen, und auch Mutter erinnerte sich sehr gut daran, und darum war sie so mutig, ihn aufzuhalten. Ich weiß nicht, was sie ihm von dir erzählt hat, irgend etwas von der Art, daß er dich unbedingt sehen müsse, ehe er morgen wieder fortgehe.«
»Ach«, rief Mary, »geht er morgen wieder weg? Da bin ich aber froh!«
»Er geht für lange Zeit weg. Vor dem Herbst oder Winter wird er wohl nicht zurückkommen. Er reist ins Ausland. Das tut er immer.«
»Da bin ich aber glücklich — da bin ich aber glücklich!« wiederholte Mary dankbar.
Wenn er vor dem Winter oder auch nur vor dem Herbst nicht wiederkäme, würde ihr Zeit genug bleiben, um zu beobachten, wie der geheime Garten sich belebte. Selbst wenn er es dann herausfand und ihr den Garten fortnahm, hätte sie wenigstens diese Zeit für sich gehabt.
»Warum meinst du, will er mich sehen?« Sie hatte
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