Der geheime Garten
vergraben«, sagte Mary. »Niemand konnte hineingehen.«
»Stimmt«, antwortete er. »Er ist merkwürdig. Mir kommt es so vor, als ob jemand die Zweige gestutzt hätte. Und das kann nicht vor zehn Jahren gewesen sein.«
»Aber wie hätte jemand das tun können?« fragte Mary.
Er prüfte den Zweig einer Hochstammrose und schüttelte den Kopf. »Wer könnte hereinkommen«, murmelte er, »bei verschlossener Tür? Der Schlüssel war doch vergraben.«
Mary dachte, daß sie diesen Morgen ihr Leben lang nicht vergessen würde. Von diesem Tag an würde bestimmt alles zu wachsen beginnen. Als Dickon anfing, Beete abzustecken und Samen zu streuen, fiel ihr ein, was Basil in Indien gesungen hatte, um sie zu ärgern.
»Gibt es Blumen, die wie Glocken aussehen?« fragte sie.
»Manche Lilien sehen so aus«, sagte er. »Und auch Maiglöckchen und Glockenblumen.«
»Die wollen wir säen.«
»Lilien habe ich hier schon entdeckt. Aber sie stehen zu nah beieinander. Wir müssen sie auseinanderpflanzen, wir haben ja eine Menge davon. Ich kann dir auch Glockenblumen aus unserem Garten mitbringen. Warum willst du gerade die haben?«
Mary erzählte ihm von Basil und seinen Brüdern und Schwestern in Indien, und wie sie sie gehaßt hatte, und wie die Kinder sie trotzige Mary genannt hatten. »Sie tanzten immer um mich herum und sangen: Trotzige Mary, törichte Mary, lange sollst du warten, bis Glockenblumen und roter Mohn blühn in deinem Garten. Daran mußte ich gerade denken, und darum wollte ich wissen, ob es wirklich Blumen mit Glöckchen gibt.«
Sie legte die Stirn in nachdenkliche Falten. »Ich war nicht so töricht und trotzig wie sie.«
Aber Dickon lachte. »Ha«, sagte er und atmete den Duft der frisch umgegrabenen Erde ein. »Wie können wir denn töricht und trotzig sein, wenn es Blumen gibt und Tiere, die uns vertraut sind, die ihre Nester bauen und ihre Lieder singen?«
Mary, die neben ihm kniete und ihm die Samentütchen reichte, schaute zu ihm auf.
»Dickon«, sagte sie, »du bist wirklich so nett, wie Martha sagte. Ich hab' dich gern. Du bist der fünfte, den ich gern habe. Ich habe nie gedacht, daß ich jemals fünf lieben könnte.«
Dickon erhob sich. Er sieht so lustig und so begeistert aus, dachte Mary — mit seinen runden, blauen Augen, seinen roten Backen und der Stupsnase.
»Du hast fünf gern? Wer sind die vier anderen?«
»Deine Mutter und Martha«, Mary zählte an den Fingern auf — »und das Rotkehlchen und Ben Weatherstaff.«
Dickon mußte so sehr lachen, daß er die Hand vor den Mund hielt.
»Ich weiß, du hälst mich für einen komischen Jungen — aber für mich bist du das seltsamste Mädchen, das ich je gesehen habe.«
Darauf tat Mary etwas Außergewöhnliches. Nie hätte sie gedacht, daß ihr so etwas einfallen würde. Sie beugte sich vor und fragte: »Magst du mich denn?«
»Ja«, sagte er herzlich, »sogar sehr. Ich finde dich großartig, und ich bin sicher, daß es dem Rotkehlchen genauso ergeht.«
»Das sind zwei«, sagte Mary. »Zwei, die für mich sind.«
Darauf arbeitete sie noch eifriger und freudiger. Sie war bestürzt und traurig, als sie die große Glocke im Hof Mittag läuten hörte.
»Jetzt muß ich gehen«, sagte sie finster. »Und du wohl auch.«
Dickon lachte.
»Mein Mittagessen habe ich bei mir. Mutter steckt mir immer etwas in die Tasche.«
Er nahm seine Jacke, die auf dem Gras lag, und brachte ein kleines Bündel zum Vorschein. Dieses war in ein sauberes, blau-weißgewürfeltes Taschentuch geknüpft. Es enthielt zwei dicke Brotscheiben, zwischen denen etwas steckte.
»Meist bekomme ich nur Brot; aber heute habe ich eine gute Scheibe Speck dazwischen.«
Mary fand dieses Mittagessen merkwürdig, aber er schien sich darauf zu freuen.
»Lauf und iß«, sagte er. »Ich werde zuerst fertig sein. Bevor ich nach Hause gehe, will ich noch ein bißchen arbeiten.«
Er setzte sich und lehnte den Rücken an einen Baumstamm. »Ich rufe das Rotkehlchen. Es bekommt die Rinde meiner Speckscheibe. Vögel mögen gern ein bißchen Fett.«
Mary fiel es schwer, ihn zu verlassen. Plötzlich bekam sie Angst, daß er eine Märchengestalt sein könnte, die verschwunden sein würde, wenn sie in den Garten zurückkäme. Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Langsam ging sie auf das Tor zu, dann hielt sie an und kam zurück.
»Was auch immer geschieht — du, du wirst nichts ausplaudern, nicht wahr?« sagte sie. Seine roten Backen blähten sich, weil er gerade einen großen Happen
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