Der geheime Garten
hörte das Weinen deutlicher, aber es klang nicht so laut. Es kam von der anderen Seite der Wand, links, und dort entdeckte sie ein paar Meter weiter eine Tür. Ein Lichtschimmer fiel durch den Türspalt. Im Raum hinter der Tür weinte jemand, und dieser Jemand mußte noch jung sein. Sie ging auf die Tür zu, öffnete sie und stahl sich ins Zimmer. Es war ein großer Raum mit alten, schönen Möbeln. Ein kleines Feuer glomm im Kamin, und ein Nachtlicht brannte neben einem Himmelbett, das vier große geschnitzte Pfosten hatte, an denen Brokatvorhänge hingen. In dem Bett lag ein Junge. Er weinte kläglich.
Mary bezweifelte, daß sie all dies wirklich erlebte. Sie war nicht sicher, ob sie nur im Schlaf lag und alles träumte. Der Junge hatte ein scharfgeschnittenes, zartes Gesicht. Es hatte die Farbe von Elfenbein. Seine Augen waren fast zu groß. Er hatte dichtes Haar, das ihm in schweren Locken in die Stirn fiel. Er sah aus wie ein Junge, der krank war, aber er weinte eher so, als ob er müde und verärgert sei.
Mary stand, die Kerze in der Hand, nahe bei der Tür und hielt den Atem an. Dann schlich sie durch das Zimmer. Als sie näher kam, wurde der Junge durch das Kerzenlicht auf sie aufmerksam. Er hob seinen Kopf aus den Kissen und starrte sie an. Seine grauen Augen öffneten sich so weit, daß sie riesenhaft wirkten. »Wer bist du?« sagte er schließlich mit ängstlichem Flüstern. »Bist du ein Geist?«
»Nein«, antwortete Mary. Ihr eigenes Flüstern klang auch erschrocken. »Bist du vielleicht einer?«
Er starrte und starrte. Mary fand, daß er merkwürdige Augen hatte. Sie waren grau wie Achat, viel zu groß für sein Gesicht.
»Nein«, sagte er zögernd. »Ich bin Colin.«
»Wer ist Colin?« stammelte sie.
»Ich bin Colin Craven. Wer bist du?«
»Ich bin Mary Lennox. Mr. Craven ist mein Onkel.«
»Er ist mein Vater«, sagte der Junge.
»Dein Vater?« staunte Mary. »Niemand hat mir gesagt, daß er einen Sohn hat. Warum nicht?«
»Komm näher«, sagte Colin und hielt seine seltsamen Augen noch immer mit ängstlichem und mißtrauischem Ausdruck auf sie geheftet.
Sie trat an das Bett heran. Er streckte seine Hand aus und berührte sie.
»Du bist wirklich, nicht wahr? Ich habe oft seltsame Träume. Vielleicht bist du ein Traum?«
Mary hatte, ehe sie ihr Zimmer verließ, einen wollenen Morgenmantel übergeworfen. Sie legte ein Stückchen des Wollstoffes in seine Finger.
»Faß es an«, sagte sie, »und fühl, wie dick und warm der Stoff ist. Ich könnte dich ein bißchen kneifen, damit du merkst, daß ich wirklich bin. Ich habe auch einen Augenblick gedacht, du seist ein Traum.«
»Woher kommst du?« fragte er.
»Aus meinem Zimmer. Der Wind heulte so, daß ich nicht schlafen konnte. Dann hörte ich jemanden weinen und wollte herausfinden, wer es war. Warum hast du geweint?«
»Weil ich auch nicht schlafen konnte. Und ich hatte Kopfschmerzen. Sag mir deinen Namen noch einmal.«
»Mary Lennox. Hat dir keiner erzählt, daß ich hierhergekommen bin, um hier zu leben?«
Er befühlte noch immer den Stoff ihres Morgenrockes, aber er schien nun langsam daran zu glauben, daß sie aus Fleisch und Blut war.
»Nein«, sagte er. »Sie haben es nicht gewagt.«
»Warum nicht?« fragte Mary.
»Weil ich Angst gehabt hätte, daß du mich sehen wolltest. Ich will nicht, daß die Menschen mich sehen und über mich reden.«
»Warum denn?« fragte Mary wieder, mehr und mehr erstaunt.
»Weil ich immer so bin wie jetzt — krank. Und ich muß immer im Bett liegen. Mein Vater will auch nicht, daß die Leute über mich reden. Die Dienstboten dürfen nicht über mich sprechen. Wenn ich am Leben bliebe, würde ich einen Buckel kriegen, aber ich werde nicht am Leben bleiben. Mein Vater verabscheut den Gedanken, daß ich so werden könnte wie er.«
»Oh«, rief Mary, »was ist das für ein seltsames Haus! Alles ist voller Geheimnisse. Die Zimmer sind verschlossen, sogar Gärten sind verschlossen, und jetzt du! Bist du auch eingeschlossen gewesen?«
»Nein, ich bleibe in diesem Zimmer, weil ich nicht hinaus will. Es macht mich zu müde.«
»Kommt dein Vater dich besuchen?« forschte Mary.
»Manchmal. Meist, wenn ich schlafe. Er mag mich nicht ansehen.«
»Warum denn?« Mary konnte die Frage nicht unterdrücken.
Ein Schatten von Trauer legte sich über das Gesicht des Jungen.
»Meine Mutter starb, als ich geboren wurde. Es macht ihn traurig, mich anzusehen. Er glaubt, ich wisse es nicht, aber ich habe die Leute
Weitere Kostenlose Bücher