Der geheime Garten
piepste und zirpte es, als wenn ein Chor von Vögeln sich zu einem Konzert räuspern wollte. Mary steckte ihre Hand zum Fenster hinaus und hielt sie in die Sonne.
»Es ist warm — warm!« sagte sie. »Die Pflanzen werden aus der Erde kommen.«
Sie kniete nieder und lehnte sich, so weit sie konnte, aus dem Fenster, atmete die Luft tief ein und schnupperte, bis sie zu lachen anfing, weil Dickons Mutter gesagt hatte, seine Nase zittere wie die eines Kaninchens.
»Es muß noch sehr früh sein«, dachte sie. »Die kleinen Wölkchen sind rosa. Ich habe den Himmel noch nie so gesehen. Hier ist noch niemand aufgestanden. Ich höre nicht einmal die Stalljungen.«
Ein jäher Gedanke ließ sie aufspringen.
»Ich kann nicht warten! Ich muß den Garten sehen!«
Sie hatte inzwischen gelernt, sich selber anzuziehen. In fünf Minuten war sie fertig. Sie kannte eine schmale Seitentür, die sie selbst aufschließen konnte. Auf Strümpfen rannte sie die Treppe hinunter und zog die Schuhe erst in der Diele an. Sie Schloß auf, schob den Riegel zurück und nahm die Kette ab. Als die Tür aufging, sprang sie mit einem Satz über die Stufen vor der Schwelle. Nun stand sie im Gras, das viel grüner aussah in der strahlenden Morgensonne. Vor Freude schlug sie die Hände zusammen und sah zum Himmel auf. Der war blau, rosa und perlweiß. Sie hatte das Gefühl, daß sie pfeifen oder singen mußte und verstand, weshalb Rotkehlchen, Drosseln und Lerchen nicht anders konnten als jubilieren. Sie rannte über die Pfade und Wege auf den geheimen Garten zu. »Alles ist verwandelt!« jauchzte sie. »Das Gras ist grüner, und die Knospen werden dicker. Ich bin sicher, daß Dickon heute kommt.«
Als sie die Stelle erreicht hatte, wo das Tor unter dem Efeu verborgen war, ließ ein eigenartiger Ton sie aufhorchen.
Es war das »Krah — Krah« einer Krähe. Als sie hochschaute, sah sie einen großen Vogel mit dichtem, blauschwarzem Gefieder oben auf der Mauer sitzen. Er blickte sehr weise auf sie herab. Nie hatte sie eine Krähe so nah gesehen. Es machte sie ein bißchen ängstlich. Aber im nächsten Augenblick breitete der Vogel seine Schwingen aus und flog über die Mauer. Sie hoffte, er werde nicht in ihrem Garten bleiben, und stieß das Tor auf, um nachzusehen. Als sie drinnen war, sah sie, daß er doch zu bleiben beabsichtigte, denn er hatte sich auf einen niedrigen Apfelbaum gesetzt. Unter dem Apfelbaum lag ein kleines rötliches Tier mit einem buschigen Schwanz. Beide beobachteten Dickon mit seinem rostfarbenen Haarschopf, der im Gras kniete und eifrig jätete.
Mary flog quer über das Gras auf ihn zu.
»Oh, Dickon! Dickon!« schrie sie. »Wie kommt es, daß du schon so früh hier bist? Wie ist das möglich? Die Sonne steht ja eben erst auf!«
Er erhob sich. Er lachte und strahlte. Seine Augen waren wie ein Stück Himmel.
»Ja«, sagte er, »ich bin eben eher als die Sonne aufgestanden. Ich konnte einfach nicht im Bett bleiben. Ich bin direkt hierhergekommen. Der Garten wartet doch auf uns.«
Mary preßte ihre Hände auf die Brust und atmete tief. »Dickon!« sagte sie, »Dickon! Ich bin so glücklich, daß ich fast nicht atmen kann.«
Als das kleine rote Tier mit dem buschigen Schwanz Dickon mit einer Fremden sprechen sah, erhob es sich von seinem Platz unter dem Baum und kam näher. Die Krähe krächzte einmal, flog dann von ihrem Ast herab und setzte sich auf Dickons Schulter.
»Das ist mein kleiner Fuchs«, sagte Dickon und kraulte den Kopf des Tieres. »Sein Name ist Kapitän. Und das hier ist Ruß. Die Krähe ist den ganzen Weg übers Moor hinter mir hergeflogen und Kapitän hat sich uns angeschlossen. Die beiden waren in der gleichen Stimmung wie ich.«
Keines der beiden Tiere schien Angst vor Mary zu haben. Als Dickon ein paar Schritte weiterging, blieb Ruß auf seiner Schulter sitzen, und Kapitän trottete hinter den beiden her.
»Schau«, sagte Dickon, »wie das alles gewachsen ist.« Er ließ sich auf die Knie nieder, und Mary tat es ihm nach. Vor ihnen lag ein Teppich von Krokusblumen, die eben purpurn, gelb und golden aufbrechen wollten.
Sie liefen nun von einer Stelle im Garten zur anderen und fanden so vieles zum Bewundern, daß sie sich gegenseitig ermahnen mußten, nicht so laut zu sprechen. Er zeigte ihr schwellende Knospen an Rosenstöcken, die vorher leblos ausgesehen hatten. Er zeigte ihr Tausende von neuen Trieben, die aus der Gartenerde schauten. Sie hielten ihre eifrigen jungen Nasen dicht an die Erde. Sie
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