Der geheime Garten
gruben und zupften und lachten vor Begeisterung, bis auch Marys Haar sich sträubte und ihre Backen rot wie die von Dickon waren.
Mitten in ihrer Begeisterung erschien das Rotkehlchen und trug etwas im Schnabel. Dickon stand ganz still und legte feierlich seine Hand auf Marys Schulter.
»Wir dürfen es nicht stören. Es ist Ben Weatherstaffs Robin. Und er will hier ein Nest bauen. Er wird hierbleiben, wenn wir ihn nicht verscheuchen.«
Sie setzten sich still ins Gras.
»Er darf nicht merken, daß wir ihn beobachten«, sagte Dickon. »Da er ein Haus baut, ist er ein bißchen empfindlicher als sonst. Er hat jetzt auch keine Zeit zum Schwatzen. Wenn er sich erst daran gewöhnt hat, daß wir in der Nähe sind, wird er begreifen, daß wir ihn nicht stören wollen.«
Mary blickte Dickon bewundernd an. Sie verhielt sich mäuschenstill wie er.
»Das Nesterbauen gehört zum Frühling«, sagte er. »Das ist so, seit die Erde besteht.«
»Wenn wir von ihm reden, muß ich ihn immer beobachten. Laß uns von etwas anderem reden«, sagte sie so leise wie möglich. »Es gibt da etwas, das ich dir unbedingt erzählen muß.«
»Was ist es?« fragte Dickon.
»Weißt du Bescheid über Colin?« flüsterte sie.
Er wandte den Kopf und sah sie an.
»Was weißt du von ihm?« fragte er.
»Ich habe ihn gesehen. Ich habe in der vergangenen Woche jeden Tag mit ihm gesprochen. Er will, daß ich zu ihm komme. Er sagt, ich bringe ihn dazu, daß er Krankheit und Tod vergißt«, antwortete Mary.
Dickon atmete erleichtert auf, nachdem die Verwunderung von seinem runden Gesicht gewichen war.
»Da bin ich aber froh«, rief er. »Ich bin recht glücklich, denn ich wußte alles von Colin und durfte nicht mit dir darüber sprechen. Und ich will doch vor dir keine Geheimnisse haben.«
»Hast du es nicht gern, daß unser Garten ein Geheimnis ist?« fragte Mary.
»Ich werde es nie verraten. Aber ich habe Mutter gesagt, ich hätte ein Geheimnis anvertraut bekommen, kein schlechtes, und ob sie etwas dagegen hätte, wenn ich es hüte.«
»Was hat sie gesagt?« fragte sie und hatte keine Angst vor der Antwort.
Dickon lachte leise.
»Was sie sagte, sah ihr ähnlich. Sie stupste mich ein bißchen, lachte und meinte: Mein Junge, du kannst so viele Geheimnisse hüten wie du magst. Ich kenne dich jetzt schon seit zwölf Jahren! «
»Woher weißt du etwas von Colin?« fragte Mary.
»Jeder hier weiß, daß Mr. Craven einen kleinen Sohn hat, der ein Krüppel ist. Und jeder weiß, daß Mr. Craven nicht will, daß man darüber spricht. Alle Leute sind traurig, denn Mrs. Craven war eine so hübsche junge Dame. Und sie und ihr Mann haben sich sehr gern gehabt. Wenn Mrs. Medlock auf dem Weg nach Thwaite an unserer Tür vorbeikommt, spricht sie manchmal mit Mutter darüber. Sie weiß, daß wir Kinder nicht weiter darüber reden. Wie sah er denn aus? Martha war neulich sehr aufgeregt, als sie nach Hause kam. Sie sagte, du habest ihn nachts weinen gehört und sie ausfragen wollen.«
Mary erzählte, wie nachts der Wind geheult und sie geweckt hatte. Wie sie mit der Kerze in der Hand durch die dunklen Korridore dem Weinen nachgegangen war und die Tür geöffnet hatte. Sie schilderte den Raum mit dem Himmelbett. Dann beschrieb sie das kleine, elfenbeinfarbene Gesicht und die seltsamen Augen Colins.
Dickon nickte.
»Die Augen hat er von seiner Mutter. Nur haben sie bei ihr immer gelacht. Die Leute sagen, Mr. Craven kann es nicht ertragen, Colin anzusehen, wenn er wach ist. Denn er hat die Augen seiner Mutter, aber sie sehen in seinem kranken Gesicht ganz anders aus.«
»Glaubst du, er wäre froh, wenn sein Sohn sterben würde?«
»Nein, aber er hätte lieber, er wäre nie geboren. Mutter sagt, das sei für ein Kind das Schlimmste. Wenn Kinder nicht erwünscht sind, können sie nicht gedeihen. Mr. Craven hat so viel Geld. Er könnte seinem Sohn alle Geschenke der Welt machen, aber er möchte lieber vergessen, daß er geboren worden ist. Er befürchtet, daß er einen Buckel bekommt.«
»Colin selber hat eine solche Angst davor, daß er sich nicht aufrichten will. Er sagt, wenn er sich vorstellt, daß er einen Buckel bekommt, wird er wahnsinnig vor Angst und muß sich zu Tode schreien.«
»Er sollte nicht herumliegen und sich solche Geschichten ausdenken«, sagte Dickon. »Kein Junge, der über solches Zeug grübelt, kann sich wohlfühlen.«
Der Fuchs lag zu Füßen Dickons im Gras und guckte manchmal hoch, weil er gekrault werden wollte. Der Junge neigte
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