Der geheime Garten
kann ihn nicht besuchen«, antwortete sie. »Dickon wartet auf mich.« Und sie rannte davon.
Am Nachmittag war es noch lieblicher im Garten. Sie arbeiteten fleißig. Fast alles Unkraut war schon entfernt, die Rosen und Sträucher waren hochgebunden, die Erde um die Wurzeln umgegraben. Dickon hatte seinen eigenen Spaten mitgebracht und lehrte Mary, die Gartengeräte zu handhaben. Es war klar, daß ihr Garten nicht aussehen würde wie der gepflegte Garten eines Gärtners, aber aus der lieblichen Wildnis dieses Fleckchens Erde würden Blumen blühen, noch ehe der Frühling verging.
»Sieh die Apfelblüten und die Kirschblüten über uns«, sagte Dickon. »Pfirsiche und Pflaumen werden an der Mauer blühen, und die Grasfläche wird wie ein Blumenteppich sein.«
Auch der kleine Fuchs und die Krähe waren glücklich. Die beiden Rotkehlchen flogen fleißig hin und her. Manchmal schlug die Krähe ihre schwarzen Flügel hoch und machte einen kleinen Rundflug im Garten. Sie kam immer wieder zurück. Dickon sprach mit der Krähe, wie er mit dem Rotkehlchen gesprochen hatte. Als Dickon einmal so beschäftigt war, daß er nicht gleich antworten konnte, flog Ruß auf seine Schulter und kniff ihn mit dem großen Schnabel leicht ins Ohr. Später wollte Mary ein bißchen ausruhen. Dickon setzte sich zu ihr unter einen großen Baum. Er nahm seine Flöte aus der Tasche und spielte eine kleine Weise. Zwei Eichhörnchen erschienen auf der Mauer, guckten herüber und horchten.
»Du bist viel stärker geworden, als du vorher warst«, sagte Dickon zu Mary, als sie wieder zu graben begann. »Du siehst auch ganz anders aus.«
Mary glühte vor Begeisterung.
»Ich werde jeden Tag ein bißchen dicker«, sagte sie fröhlich. »Bald wird Mrs. Medlock meine Kleider weiter machen müssen. Martha sagt, daß auch mein Haar nicht mehr so dünn und strähnig ist.«
Die Sonne ging langsam nieder und sandte tiefgoldene Strahlen unter die Bäume, ehe sie Abschied nahm.
»Morgen wird es wieder gutes Wetter geben«, sagte Dickon. »Ich fange gleich im Morgengrauen wieder an.«
»Ich auch!« rief Mary.
Sie lief ins Haus zurück, so schnell ihre Füße sie trugen. Sie wollte Colin von Dickons Fuchsjungen und der Krähe und vom Frühling erzählen. Sie war sicher, daß er es gern hören würde. Deshalb war sie überrascht, als Martha mit kummervollem Gesicht in ihrem Zimmer stand.
»Was ist los?« fragte Mary. »Was hat Colin gesagt?«
»Ja«, sagte Martha, »ich wäre froh gewesen, wenn du zu ihm gegangen wärest. Wir fürchteten, er kriege wieder einen Anfall. Wir hatten große Mühe, ihn zu beruhigen. Er hat die ganze Zeit auf die Uhr gesehen.«
Mary kniff die Lippen zusammen. Sie war nicht gewohnt, an andere Menschen zu denken, und sie sah nicht ein, weshalb ein schlechtgelaunter Junge sie hindern sollte, das zu tun, was ihr gefiel.
Colin saß nicht auf dem Sofa, als sie sein Zimmer betrat. Er lag flach auf dem Rücken in seinem Bett und wandte ihr sein Gesicht nicht zu, als sie sich ihm näherte. Das war ein schlechter Anfang, und Marys Ärger wuchs, je näher sie kam.
»Warum bist du nicht aufgestanden?« fragte sie.
»Ich bin heute morgen aufgestanden, weil ich dachte, du kämest«, antwortete er, ohne sie anzusehen. »Heute nachmittag habe ich ihnen befohlen, mich wieder ins Bett zu legen. Mein Rücken tat weh und mein Kopf tat weh, und ich fühlte mich müde. Warum bist du nicht gekommen?«
»Ich habe mit Dickon im Garten gearbeitet«, sagte Mary.
Colin zog die Stirn kraus und ließ sich dazu herab, sie endlich anzusehen.
»Ich werde nicht länger erlauben, daß der Junge hierherkommt und daß du mit ihm zusammen bist, statt bei mir zu erscheinen«, sagte er.
Mary geriet in Wut. Sie konnte wütend werden, ohne einen Laut von sich zu geben.
»Wenn du Dickon wegschickst, komme ich nie mehr in dieses Zimmer«, sagte sie eiskalt.
»Das wirst du müssen, wenn ich es befehle.«
»Ich werde dir nicht gehorchen«, sagte Mary.
»Dann werde ich dich zwingen«, sagte er. »Sie werden dich hierherschleppen.«
»Das sollen sie von mir aus versuchen, Mister Rayah«, sagte Mary spöttisch. »Sie können mich hierher schleppen, aber sie werden mich nicht zum Reden bringen, wenn ich hier bin. Ich werde dasitzen und die Zähne zusammenbeißen und dir überhaupt nichts erzählen. Nicht einmal angucken werde ich dich. Ich werde auf den Fußboden starren.«
»Du bist ein selbstsüchtiges Ding!« brüllte Colin.
»Und was bist du?« schrie Mary.
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