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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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so zu horchen und aus dem Bett aufzustehen und durch die Gänge zu wandeln, wie du es in jener Nacht getan hast«, sagte Mrs. Medlock eines Tages zu Mary. »Aber wer weiß, vielleicht war es für uns alle ein Segen. Er hat keinen Anfall und keinen Schreikrampf mehr gehabt, seitdem ihr Freunde seid. Die Schwester wollte gerade die Stelle aufgeben, weil sie ihn so satt hatte, aber jetzt sagt sie, habe sie nichts dagegen, hier zu bleiben, seitdem du die Pflichten mit ihr teilst«, lachte Mrs. Medlock.
    In ihren Gesprächen mit Colin war Mary, was den geheimen Garten betraf, sehr vorsichtig gewesen. Es gab da einiges, was sie herausfinden mußte, ohne daß sie ihm direkte Fragen stellte. Als sie anfing, ihn gern zu haben, wollte sie zunächst herausfinden, ob er ein Junge war, dem man ein Geheimnis anvertrauen konnte. Er war ganz anders als Dickon. Aber er war sichtlich stolz auf den Garten, den keiner kannte, so daß sie dachte, sie könne ihm vielleicht trauen. Trotzdem — sie kannte ihn noch nicht lange genug, um sicher zu sein. Ihr nächster Gedanke war, herauszufinden — falls man ihm wirklich trauen konnte —, ob es irgendwie möglich wäre, ihn in den Garten zu bringen, ohne daß jemand es bemerkte. Der berühmte Doktor hatte gesagt, er müsse frische Luft haben, und Colin hatte gemeint, in dem geheimen Garten würde er recht gern frische Luft atmen. Vielleicht würde er nicht mehr an seinen Tod denken, wenn er auch Dickon und das Rotkehlchen kennenlernte und zusehen konnte, wie die Pflanzen wuchsen. Mary hatte in letzter Zeit oft in den Spiegel geschaut und festgestellt, daß sie ganz anders aussah als damals, als sie Indien verließ. Dasselbe Kind sah heute viel netter aus. Sogar Martha hatte die Veränderung bemerkt.
    »Der Moorwind hat dir schon gutgetan«, hatte sie gesagt. »Du siehst nicht mehr so gelb aus, und du bist nicht mehr so dürr. Sogar dein Haar liegt nicht mehr so flach am Kopf. Es hat Leben bekommen.«
    Wenn der Garten und die frische Luft ihr gutgetan hatten, dann würde es vielleicht auch Colin gutbekommen, draußen zu sein. Aber da er es nicht mochte, daß jemand ihn ansah, würde er vielleicht Dickon nicht begegnen wollen.
    »Warum wirst du ärgerlich, wenn dich jemand sieht?« fragte sie ihn eines Tages.
    »Ich habe es nie gemocht«, antwortete er. »Schon als ich noch ganz klein war. Als sie mich an die See brachten und ich in meinem Rollstuhl lag, starrten mich alle an, und die Damen blieben stehen und sprachen mit der Schwester, und dann fingen sie an zu flüstern, und ich wußte, sie sprachen davon, daß ich früh sterben müßte. Dann tätschelten die Damen mir manchmal die Wangen und sagten: Armes Kind! Einmal habe ich, als eine Dame mich streichelte, laut geschrien und sie in die Hand gebissen. Sie war ganz entsetzt und rannte weg.«
    »Sie dachte, du wärst toll geworden wie ein Hund«, sagte Mary, ohne ihn zu bewundern.
    »Es ist mir egal, was sie gedacht hat«, sagte Colin und runzelte die Stirn.
    »Ich frage mich, warum du nicht geschrien und mich gebissen hast, als ich in dein Zimmer kam.« Sie lächelte leise.
    »Ich dachte, du wärst ein Geist oder ein Traum«, sagte er.
    »Man kann einen Geist oder einen Traum nicht beißen. Und auch wenn man zu schreien anfinge, würde es den Geist nicht stören.«
    »Wäre es dir unangenehm, wenn — wenn ein Junge dich sähe?« fragte Mary unsicher.
    Er überlegte ernsthaft.
    »Es gibt einen Jungen«, sagte er langsam, »bei dem hätte ich nichts dagegen. Es ist der Junge, der weiß, wo die Füchse leben — Dickon.«
    »Ich wußte, daß du nichts gegen ihn hast«, frohlockte Mary.
    »Die Vögel und die anderen Tiere haben auch nichts gegen ihn«, sagte er, noch immer nachdenklich. »Er ist ein Verzauberer von Tieren. Vielleicht verzaubert er auch einmal einen Jungen.« Dann lachte er, und sie lachte mit ihm. Sie fanden den Gedanken an einen Jungen, der sich wie ein Tier in seiner Höhle versteckt, furchtbar komisch.
    Hinterher dachte Mary, daß sie sich wegen Dickon keine Gedanken mehr zu machen brauchte.
    Am ersten Morgen, da der blaue Himmel wieder zum Vorschein kam, erwachte Mary sehr früh. Die Sonne fiel in schrägen Strahlen durch die Ritzen der Vorhänge. Der Anblick machte Mary fröhlich; sie sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Sie zog die Vorhänge auf und öffnete das Fenster. Ein Strom von frischer, würziger Luft kam herein. Das Moor war blau, und die ganze Welt sah aus, als ob sie verzaubert worden wäre. Da und dort

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