Der geheime Garten
sich zu ihm herab und streichelte sanft seinen Nacken. Er dachte eine Weile nach. Dann hob er den Kopf und schaute im Garten umher.
»Als wir zum erstenmal hierherkamen, sah alles grau aus. Sieh dich mal um. Kommt es dir nicht verändert vor?«
Mary schaute sich um und atmete tief. »O ja!« rief sie, »die graue Mauer verändert sich! Ein grüner Schleier liegt darüber. Es ist fast wie ein grüner Teppich.«
»Ja«, nickte Dickon, »jetzt wird das Grün immer dichter, bis das Grau ganz verschwunden ist. Weißt du, was ich mir gerade überlegte?«
»Bestimmt etwas Gutes. Betrifft es Colin?« fragte Mary eifrig. »Wenn er hier wäre, würde er sicher nicht über seinen Buckel nachdenken. Er würde beobachten, wie sich die Knospen an den Rosenbüschen öffnen, und er würde sich bestimmt viel gesünder fühlen.« Dickon dachte nach. »Ich überlege mir, ob wir ihn nicht soweit bringen können, daß er mit uns hierherkäme. Er könnte in seinem Wagen unter den Bäumen liegen.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Mary erleichtert. »Ich habe tatsächlich immerzu daran denken müssen, während ich mit ihm plauderte. Ich überlegte mir, ob er wohl ein Geheimnis bewahren könnte, und ob wir ihn vielleicht selber eines Tages hierherbringen könnten, ohne das es jemand bemerkt. Der Doktor sagte, er braucht frische Luft. Wenn Colin wirklich wollte, würde keiner wagen, ihm zu widersprechen. Mit anderen Leuten will er nicht ausgehen. Vielleicht wären sie ganz zufrieden, wenn er nur mit uns zusammen sein wollte.«
Dickon dachte scharf nach, während er Kapitäns Kopf kraulte.
»Es würde ihm guttun, da bin ich ganz sicher«, sagte er. »Wir wären dann zu dritt hier, zwei Jungen und ein kleines Mädchen, die alle darauf warten, daß der Frühling kommt. Ich glaube, das täte ihm besser, als all das Zeug, das ihm der Doktor verschreibt.«
»Er hat so lange im Zimmer gelegen und Angst gehabt wegen seinem Rücken, daß er davon ganz wunderlich geworden ist«, äußerte Mary. »Er weiß viel aus Büchern, aber sonst weiß er überhaupt nichts! Er sagt, er sei immer zu krank gewesen, um die Dinge um ihn herum zu beobachten. Er mag nicht hinausgehen und haßt Gärten und Gärtner. Aber von unserem Garten mag er gern hören, weil es ein Geheimnis ist. Ich habe nicht gewagt, ihm zu viel zu erzählen, aber er sagt, er möchte so gern alles darüber wissen.«
»Sicher bringen wir ihn eines Tages hierher«, sagte Dickon. »Ich könnte seinen Wagen schieben. Hast du bemerkt, wie fleißig das Rotkehlchen mit seinem Weibchen an dem Nest gearbeitet hat, während wir hier saßen? Guck mal, wie Robin überlegt, wohin er das Zweiglein in seinem Schnabel legen soll.«
Dickon pfiff leise. Das Rotkehlchen schaute sich fragend um, den Zweig immer noch fest im Schnabel. Dickon sprach mit Robin wie Ben Weatherstaff. Es klang wie ein freundschaftlicher Ratschlag.
»Wo du den Zweig auch hinlegst, es ist alles in bester Ordnung. Du hast schon gewußt, wie man ein Nest baut, ehe du aus dem Ei geschlüpft bist. Mach also nur weiter, du hast keine Zeit zu verlieren.«
»Ich hab's gern, wenn du mit ihm sprichst«, sagte Mary. »Ben Weatherstaff schimpft immer und macht sich über ihn lustig. Und dann tut Robin auch, als ob er alles verstände, und ich bin sicher, daß es ihm Spaß macht. Ben Weatherstaff sagt, Robin sei so eitel, daß er lieber hätte, man würde ihm Steine nachwerfen als ihn überhaupt nicht beachten.«
Dickon lachte und schwatzte weiter mit Robin.
»Du weißt, daß wir dich niemals stören würden. Wir fühlen uns mit dir verbunden. Wir bauen hier selbst ein Nest. Auf uns kannst du zählen.«
Obwohl das Rotkehlchen nicht antwortete, es hatte noch immer den Zweig im Schnabel, wußte Mary, daß es mit seinen dunklen Tautropfenaugen sagen wollte, es werde niemals ein Geheimnis verraten.
»Ich will nicht« — sagte Mary
An diesem Morgen arbeiteten sie besonders eifrig. Mary kam spät zum Essen und hatte es so eilig, wieder in den Garten zurückzulaufen, daß sie nicht dazu kam, bei Colin hineinzuschauen. Erst im letzten Augenblick sagte sie zu Martha:
»Sag bitte Colin, daß ich jetzt nicht zu ihm kommen kann. Ich bin im Garten beschäftigt.«
Martha blickte erschrocken drein.
»Oh, Miß Mary«, sagte sie, »er gerät ganz aus der Fassung, wenn ich ihm das sage.«
Aber Mary fürchtete sich nicht vor Colin, wie andere Leute es taten. Sie war aber auch nicht gewohnt, sich für jemand aufzuopfern.
»Ich
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