Der geheime Garten
»Wer selber so selbstsüchtig ist, behauptet immer, die anderen wären es, nur weil die nicht tun, was er will. Du bist viel selbstsüchtiger als ich. Du bist der selbstsüchtigste Junge, der mir je begegnet ist.«
»Das bin ich nicht«, schnauzte Colin. »Ich bin nicht so selbstsüchtig wie dein feiner Dickon. Er hält dich von mir fern, damit du im Dreck mit ihm spielst, obwohl er weiß, daß ich hier allein liege. Er ist selbstsüchtig, wenn du es wissen willst.«
Marys Augen sprühten Feuer.
»Er ist netter als jeder andere Junge auf der ganzen Welt«, rief sie. »Er ist — er ist ein Engel!« Das mochte komisch klingen, aber es war ihr ganz egal.
»Ein schöner Engel!« Colin wurde wild. »Er ist ein ganz gewöhnlicher Junge aus einer Moorhütte!«
»Er ist besser als ein ganz gewöhnlicher Rayah«, erwiderte Mary. »Ja, tausendmal besser!«
Da sie die Stärkere war, gewann sie bald Oberhand. Tatsächlich hatte Colin noch nie mit Seinesgleichen Streit gehabt. Im Grunde tat es ihm gut, auch wenn weder er noch Mary sich dessen bewußt waren. Er wandte seinen Kopf zur Seite und Schloß die Augen. Eine Träne lief langsam über seine Wange. Er hatte Mitleid mit sich selbst, nicht etwa mit jemand anderem.
»Ich bin nicht so selbstsüchtig wie du, denn ich bin immer krank. Und ich bin sicher, auf meinem Rücken bildet sich ein Buckel«, klagte er. »Außerdem sterbe ich bald.«
»Das ist nicht wahr!« schrie Mary ohne jedes Mitleid.
»Ich sterbe nicht?« schrie er zurück. »Und wie ich das tu! Ich weiß es genau! Jeder sagt es.«
»Aber ich glaub's nicht«, sagte Mary kalt. »Du sagst das bloß, um die Leute mitleidig zu machen. Ich habe das Gefühl, du bist sogar stolz darauf. Nein, ich glaube es nicht! Wenn du ein netter Junge wärst, könnte es vielleicht wahr sein. Aber du bist abscheulich.«
Trotz seines kranken Rückens fuhr Colin auf und saß jetzt aufrecht im Bett, voll gesunder Wut.
»Mach, daß du aus dem Zimmer kommst!« schnaubte er. Er ergriff sein Kopfkissen und warf es nach ihr. Er war nicht stark genug, um sie wirklich zu treffen, es fiel vor ihre Füße. Aber Mary schnitt ihm eine Grimasse.
»Ja, ich gehe«, sagte sie, »und ich komme nie wieder!«
Sie ging zur Tür. Als sie dort angekommen war, wandte sie sich zurück. »Ich kam her, um dir schöne Dinge zu erzählen«, sagte sie . »Dickon hatte seinen Fuchs und seine Krähe mitgebracht, und ich wollte dir davon erzählen. Jetzt sage ich dir nichts mehr.«
Sie ging durch die Tür und Schloß sie hinter sich. Plötzlich stand zu ihrem Erstaunen die Pflegerin da. Sie schien gelauscht zu haben, und — es war wirklich sehr merkwürdig — sie lachte. Die Pflegerin war eine hübsche, junge Frau. Vielleicht hätte sie nicht Schwester werden sollen, denn sie konnte den Anblick von Kranken nicht gut ertragen und fand immer wieder Ausreden, um Colin der jungen Martha oder jemand anderem anzuvertrauen. Mary hatte sie nie leiden können. Sie stand und starrte die kichernde Frau an.
»Nichts Besseres konnte dem verpäppelten Jungen passieren, als daß jemand daherkommt, der genauso verzogen ist wie er selber und ihm die Wahrheit sagt«, sagte die Pflegerin und lachte wieder in ihr Taschentuch hinein. »Wenn er eine kleine Schwester hätte, mit der er sich streiten könnte, wäre das die Rettung für ihn.«
»Muß er eigentlich bald sterben?«
»Ich weiß es nicht. Das schlimmste, was er hat, ist seine Hysterie und seine schlechte Laune.«
»Was ist Hysterie?« fragte Mary.
»Das wirst du erleben, wenn er sich jetzt nach dem Streit mit dir in einen Anfall hineinsteigert. Auf alle Fälle hast du ihm einen Anlaß gegeben, um sich hysterisch aufzuführen. Und das freut mich!«
Mary ging in ihr Zimmer zurück und hatte die gute Stimmung, in der sie gekommen war, ganz und gar verloren. Sie war ärgerlich und enttäuscht, hatte aber kein Mitleid mit Colin. Sie hatte ihm so viele schöne Dinge erzählen wollen und sich sogar überlegt, ob man ihm in Sachen Geheimnis Vertrauen schenken konnte. Sie hatte schon geglaubt, sie könne ihn einweihen; aber jetzt war sie anderer Ansicht. Sie würde ihm nichts erklären. Mochte er für immer in seinem Zimmer hocken. Ihretwegen brauchte er keine frische Luft und konnte ruhig sterben, wenn er wollte. Er verdiente es ja nicht anders! Sie war so ärgerlich und aufgebracht, daß sie fast Dickon vergaß und den grünen Schleier, der sich über die Mauer gelegt hatte, und den sanften Wind, der vom Moor her
Weitere Kostenlose Bücher