Der geheime Garten
Gefühl hatte, sie würde selber einen Anfall bekommen und Colin so erschrecken, wie er sie erschreckte. Sie nahm die Hände von den Ohren und stampfte mit den Füßen auf.
»Er soll aufhören! Jemand muß ihn zwingen! Man muß ihn einfach verhauen«, schrie sie laut.
In diesem Augenblick hörte sie eilende Schritte auf dem Korridor. Ihre Tür wurde aufgerissen. Die Pflegerin kam herein. Sie lachte jetzt nicht mehr. Sie sah sogar blaß aus.
»Er steigert sich in einen Anfall hinein«, sagte sie außer Atem. »Er wird sich etwas antun. Keiner kann etwas mit ihm anfangen. Du mußt kommen und ihn beruhigen. Sei ein liebes Kind. Er mag dich so.«
»Er hat mich heute abend aus dem Zimmer geworfen!« sagte Mary trotzig.
Das gefiel der Schwester. Sie hatte befürchtet, sie würde Mary weinend vorfinden, den Kopf in den Kissen ihres Bettes versteckt.
»So ist es recht«, sagte sie. »Du bist in der richtigen Stimmung. Du gehst jetzt und schimpfst ihn aus. Bring ihn dazu, daß er etwas Neues zum Nachdenken findet. Geh, Kind, so schnell du kannst.«
Erst später wurde Mary klar, daß die Lage komisch und schlimm zugleich war — komisch, weil alle Erwachsenen so entsetzt waren, daß sie die Hilfe eines kleinen Mädchens erbitten mußten, von dem sie dachten, daß es genau so unbeherrscht war wie Colin selbst.
Mary rannte den Korridor entlang. Je näher die Schreie kamen, desto wütender wurde sie. Als sie bei seiner Tür ankam, glühte sie vor Zorn. Sie stieß die Türe auf und rannte quer durch das Zimmer auf sein Bett zu. »Aufhören!« Sie schrie es fast. »Aufhören! Ich hasse dich! Alle Leute hassen dich! Ich wünschte, alle würden aus dem Haus laufen und dich schreien lassen, bis du tot wärst. Du wirst dich in einer Minute totgeschrien haben, und darüber bin ich froh.«
Ein artiges, mitfühlendes Mädchen hätte solche Worte nie gesprochen. Aber ein hysterisches Kind wie Colin, dem niemals jemand Energie oder Widerspruch entgegenzusetzen gewagt hatte, war dieser Schock genau das, was ihm nottat. Er hatte auf dem Gesicht gelegen und mit den Fäusten auf das Kissen geschlagen. Beim Klang der wütenden kleinen Stimme fuhr er herum. Sein Gesicht sah schrecklich aus, blaß und verquollen, mit roten Flecken. Er keuchte und rang nach Luft. Aber die wildgewordene kleine Mary machte sich nichts daraus.
»Wenn du noch ein einziges Mal schreist, schreie ich auch — und ich kann lauter schreien als du, und du wirst entsetzt sein. Ich werde dich in Angst und Schrecken jagen.«
Er hatte tatsächlich aufgehört zu toben, weil sie ihn so überrumpelt hatte. Der Schrei blieb ihm im Halse stecken und würgte ihn. Tränen liefen über sein Gesicht, und er zitterte am ganzen Körper.
»Ich kann nicht aufhören«, keuchte er und schluchzte> »Ich kann nicht — ich kann nicht!«
»Du kannst es«, schrie Mary. »Deine Krankheit ist nichts als schlechte Laune und Hysterie — Hysterie — Hysterie!« Sie stampfte jedesmal mit dem Fuß auf, wenn sie das Wort ausstieß.
»Ich habe den Buckel gefühlt — ich habe ihn gefühlt«, würgte Colin heraus. »Ich wußte, daß ich ihn bekomme. Ich werde einen Höcker auf meinem Rücken haben, und dann werde ich sterben.«
Er drehte sich wieder um, legte sich auf sein Gesicht und schluchzte und wimmerte, aber er stieß keine Schreie mehr aus.
»Du hast keinen Buckel gefühlt«, widersprach Mary heftig. »Es war nur ein Buckel, der in deiner Hysterie besteht. Deine Hysterie erfindet den Buckel. Nichts ist los mit deinem abscheulichen Rücken — nichts außer Hysterie. Ich werde dich jetzt untersuchen.«
Sie war in das Wort »Hysterie« verliebt und hatte außerdem das Gefühl, daß es auf ihn irgendwie beruhigend wirkte.
»Schwester, kommen Sie sofort hierher und zeigen Sie mir seinen Rücken.«
Die Schwester, Mrs. Medlock und Martha hatten zusammengedrängt an der Tür gestanden und Mary mit offenem Mund angestarrt. Die Schwester kam furchtsam näher. Colin atmete schwer. Er stieß schluchzende Seufzer aus.
»Vielleicht will er nicht, daß ich ihn untersuche«, sagte Mary mit leiser Stimme.
Colin hörte jedoch, was sie sagte, und zwischen zwei Seufzern stieß er hervor: »Laß sie, zeig es ihr — sie — sie wird dann Bescheid wissen.«
Der arme nackte Rücken sah sehr mager aus. Man konnte die Rippen zählen und jeden Wirbel im Rückgrat deutlich erkennen. Mary prüfte den Rücken mit fast feierlichem, entschlossenem Gesicht. Sie sah so ernsthaft aus, daß die Schwester sich
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