Der geheime Name: Roman (German Edition)
nur die Hundezunge im Bild hatte, wie sie die glitschigen Maden aufschleckte.
Als sie am Abend ins Haus zurückkehrte, strömte ihr süßlicher Milchreisduft entgegen. Fina hielt inne. Es war ihr Lieblingsgeruch, das Allheilmittel ihrer Kindheit. Nur ein Löffel von dem weichen Brei, und sie war stets so ruhig geworden wie ein gestilltes Baby.
Doch heute war es anders. Fina konnte noch nicht sagen, was es war, der Geruch weckte irgendein Gefühl, das sie nicht zu fassen bekam.
Sie zog die Schuhe aus und trat in die Küche. Ihre Mutter saß vor dem Laptop am Küchentisch. Buntes Licht reflektierte auf ihrem Gesicht, beleuchtete das vorsichtige Lächeln, mit dem sie zu Fina aufsah. »Ich hab uns Milchreis gekocht. Und hier sind Bilder von dem Haus in Neuseeland. Willst du sie sehen?«
Fina starrte ihre Mutter an, deren Lächeln ihr auf einmal wie eine Maske erschien. Eine Maske, hinter der sie ihre Lügen versteckte. Und der Milchreisduft sollte ein Trick sein, das war es. Ihre Mutter wollte ihren Zorn bezähmen, wollte ihr Vertrauen zurückgewinnen.
Susanne sprang auf, füllte Milchreis in eine Schale und reichte sie ihr.
Fina blickte auf die weichen, weißen Körner. Wie ein Haufen glitschiger Maden wanden sie sich umeinander.
Ihre Mutter setzte sich wieder und deutete auf den Computerbildschirm. »Hier. Schau! Das ist das Haus. Ich hab es von einem neuseeländischen Farmer gekauft. Früher haben seine Arbeiter darin gewohnt. Jetzt ist es hübsch renoviert.«
Fina trat hinter ihre Mutter, betrachtete die bunten Fotos von blühenden Blumen vor einer rotgestrichenen Veranda. Ihre Mutter zappte von einem Bild zum anderen, zeigte ihr neues Zuhause aus allen Perspektiven.
Auch diese Bilder waren eine Maske. »Hübsches Haus. Noch bessere Fotos.« Fina verlieh ihrer Stimme einen kalten Klang.
»Wie meinst du das?« Ihre Mutter hielt beim Durchklicken inne. Eine riesige Wohnküche leuchtete auf dem Monitor.
Fina zuckte die Schultern. »Ich meine, dass die Küche nie im Leben so groß ist. Der Weitwinkel will dich täuschen.«
Ihre Mutter beugte sich vor. »Ein Weitwinkel? Im Ernst? Es ist aber nicht gebogen, nicht verzerrt.«
Fina starrte auf die Maden in ihrer Schale. Sie hatte keinen Hunger. »Es ist ein gutes Objektiv. Aber trotzdem ein Weitwinkel.«
Ihre Mutter lachte auf. »Der Farmer hat erzählt, sein Sohn hätte die Fotos gemacht. Dann scheint er wohl ein guter Fotograf zu sein. Er müsste zwei, drei Jahre älter sein als du. Vielleicht versteht ihr euch ja?«
Das wilde Tier, das seit heute Morgen in Finas Brust hauste, sprang auf. »Willst du mir jetzt im Ernst den Sohn des Farmers anpreisen? Als Trostpflaster, weil wir hier schon wieder wegmüssen? Super Idee, Ma! Ich verliebe mich in ihn, und anschließend zerbricht mein bescheuertes, kleines Herz daran. Manchmal denkst du echt nicht zu Ende!«
Die Milchreismaden fingen an, sich gegenseitig aufzufressen. Fina knallte ihre Schale auf den Tisch. »Danke! Ich hab keinen Hunger!« Sie ging zur Tür.
»Fina! Warte!« Die Stimme ihrer Mutter zitterte. Irgendetwas lag darin, das Fina innehalten ließ.
Angst! Ihre Mutter hatte Angst!
»Wir haben doch keine Wahl!« Susannes Gesicht verzog sich besorgt. »Wenn er uns findet, dann wird er mich töten und dich …« Sie schluckte. »Was er mit dir macht, möchte ich mir gar nicht erst vorstellen.«
Ihr Vater! Ihr furchtbarer, grausamer Vater. Wenn er sie wirklich immer wieder ausfindig machte – warum war er dann nie vor ihrer Tür aufgetaucht?
Ihre Mutter sagte nicht die Wahrheit. Aber was, wenn sie selbst an ihre Lüge glaubte? Ihre Augen waren so weit aufgerissen, als würden sie geradewegs auf eine Bedrohung blicken, die Fina nie gesehen hatte.
Manche Menschen hatten Angst vor Dingen, die gar nicht existierten. Was, wenn ihre Mutter so jemand war? Wenn sie die ganze Zeit vor einer Wahnvorstellung flohen?
Der Boden unter Finas Füßen schwankte. Ihr wurde schwindelig. Sie rannte aus der Küche und stolperte nach oben.
Ohne sich auszuziehen, warf sie sich aufs Bett – und noch während sie sich unter ihrer Decke zusammenrollte, fühlte sie, wie der Traum an ihr zog. Die Dunkelheit des Schlafes fing sie ein und ließ sie ahnen, dass dort unten etwas auf sie wartete.
Fina konnte nicht sagen, was es war. Aber es fühlte sich schön an.
Sie wollte dorthin!
* * *
Ich träume den Traum immer und immer wieder. Wenn ich die Augen schließe, wenn meine Gedanken im Nichts verschwinden, dann gleite ich
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