Der geheime Name: Roman (German Edition)
Stuhllehne hing.
Fina versuchte, die Tasche nicht anzustarren. Sie musste sich bis zu dem Moment gedulden, in dem sie mit der Handtasche allein war. Vielleicht würde ihre Mutter irgendwann einen Spaziergang machen und ihre Tasche hierlassen. Dann hätte Fina etwas Zeit, um darin zu lesen. Vielleicht könnte sie auch schnell mit dem Faxgerät im Büro ein paar Seiten kopieren.
Sie musste nur auf einen passenden Moment warten.
* * *
Fina wartete lange auf ihre Gelegenheit. Wann immer sie in der Küche war, kontrollierte sie, ob die Handtasche noch da war. Aber ihre Mutter war stets in der Nähe, und Fina wollte sich auf keinen Fall verdächtig machen.
Abgesehen davon wusste sie nicht, wohin mit sich. Bis vorgestern hatte sie sich heimlich auf ihre Bewerbungen vorbereitet. Sie war die Infobroschüren der Fotoschulen durchgegangen, hatte über die Themen der Mappenprüfungen nachgedacht und die Fotos auf ihrem Laptop schon einmal sortiert und bearbeitet. Es hatte Spaß gemacht, nebenbei von einer besseren Zukunft und einem glücklichen Leben zu träumen.
Doch jetzt war das alles sinnlos geworden. Eine dumpfe Trauer breitete sich in ihrer Magengrube aus, während sie die Spinnen- und Madenfotos sichtete. Vergänglichkeit war das Thema einer Mappenprüfung. Allzu gerne hätte Fina dazu ein kleines Gruselkabinett zusammengestellt.
In einem Anfall von Trotz ging sie schließlich in die Küche und versteckte eine Portion Milchreis in der obersten, hintersten Ecke des Küchenschrankes. In ein paar Tagen würde es bestialisch stinken und ein paar hübsche Fotos abgeben.
Fina fühlte sich ein wenig besser, als sie mit einem Grinsen an ihren Schreibtisch zurückkehrte. Sie suchte eines der UFO-Wolkenfotos von Celine heraus und druckte es auf Fotopapier. Auf der Rückseite schrieb sie eine wehmütige Entschuldigung an ihre Nicht-Freundin und steckte es in einen großen Briefumschlag. Fina wusste noch nicht, ob sie den Brief jemals in den Postkasten der Nachbarstochter werfen würde – aber wenn, dann erst an ihrem letzten Tag, bevor sie von hier verschwinden musste.
Am Nachmittag ging ihre Mutter tatsächlich spazieren, und Fina bekam endlich ihre Gelegenheit, in der Handtasche nachzuschauen. Das Tagebuch war nicht mehr darin.
Sie suchte noch eine Weile danach, zuerst im Büro und schließlich im Schlafzimmer ihrer Mutter. Aber das Tagebuch blieb verschwunden.
Vielleicht hatte Susanne es mitgenommen, um unterwegs hineinzuschreiben?
Doch wenigstens wusste Fina jetzt, dass dieses Tagebuch existierte, dass es eine Möglichkeit gab, endlich die Wahrheit zu erfahren. Also konnte sie auch ruhig noch auf eine andere Gelegenheit warten.
Je näher der Abend rückte, desto aufgeregter wurde ihre Mutter. Fina versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie setzte sich mit einem neuen Roman auf das Sofa, blätterte von Zeit zu Zeit eine Seite um und beobachtete, wie ihre Mutter rastlos von einer Tätigkeit zur anderen wechselte. Ihren Versuch, ebenfalls zu lesen, gab sie nach wenigen Minuten auf. Mit einem Seufzen verschwand sie in ihrem Büro, aber nur kurz, dann kam sie wieder zurück und räumte in der Küche die obere Hälfte der Spülmaschine aus. Schließlich huschte sie ins Bad, um zu duschen.
Als sie wieder herauskam, trug sie einen Jogginganzug, so unverfänglich, als wollte sie gleich zu Bett gehen. Doch Fina konnte ihre Unruhe von Minute zu Minute deutlicher spüren, ihr drängendes Warten und das Dilemma, dass sie sich noch nicht einmal hübsch anziehen konnte, bevor ihre Tochter nicht tief und fest schlief.
Wozu dieser Aufwand, nur um mich anzulügen? Die Frage lag Fina auf der Zunge, aber sie sprach sie nicht aus. Stattdessen beschloss sie, ihre Mutter noch ein bisschen zu ärgern. »Wollen wir zusammen einen Film gucken? Du siehst grad so aus, als wüsstest du nicht, wohin mit dir.«
Ihre Mutter fuhr überrascht herum. Ihre blonden Haare waren noch nass, aber sie rochen nach Schaumfestiger und waren zu Wellen geknetet, die sich nach dem Trocknen zu hübschen Locken rollen würden. »Nein. Also, lieber keinen Film. Ich hab letzte Nacht so wenig geschlafen und wollte gleich ins Bett gehen.«
Fina blickte wieder in ihr Buch. »Dann eben nicht. Ich bin eigentlich auch müde.«
Vielleicht kam es ihr nur so vor, aber Fina hatte den Eindruck, als würde ihre Mutter aufatmen. »Was ist das, was du da liest?« Susanne zeigte auf das neue Buch. »Wieder Fantasy?«
Fina hob den Kopf. Immer das gleiche, leidige Thema.
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