Der geheime Name: Roman (German Edition)
Ausdruck seiner Augen passten.
Zwar war die herzliche Wärme ihrer Großeltern so deutlich, dass Fina sie bis in jeden Winkel der Welt fühlen konnte – aber es war unübersehbar, dass ihre Großeltern niemals reich gewesen waren.
Wenn also ihre Mutter die Immobilienfirma angeblich von Finas Großvater übernommen hatte – wie konnte es dann sein, dass ihre Großeltern in solcher Armut lebten?
Alles eine Lüge!
Fina warf einen Blick aus dem Fenster. Es war ein klarer Morgen. Obgleich die UFO-Wolken von dem tiefblauen Himmel verschwunden waren, duckten sich die Bäume unter dem Mistral. Die Morgensonne versteckte sich noch hinter den Weinbergen, und das Licht schimmerte matt und gräulich auf den abgemähten Reihen des Lavendels. Irgendetwas an diesem Bild verriet Fina, dass sich der Herbst in dieser Nacht angeschlichen hatte – wahrscheinlich waren es die ersten rotbraunen Flecken auf dem Grün der Weinranken.
Jederzeit könne man hier Pinsel und Leinwand herausholen, um die Landschaft zu malen. Irgendwo hatte sie einmal diesen klischeehaften Satz über die Provence gelesen.
Ihre Mutter hatte tatsächlich einen Sinn für schöne Landschaften – wenigstens das, wenn sie schon fliehen mussten. Eine Luxusflucht.
Trotzdem – alles eine Lüge!
Fina stand von ihrem Schreibtisch auf. Sie fühlte sich benommen und müde, fast so, als hätte sie gar nicht geschlafen. Sie war noch im Dunkeln aufgewacht, und wahrscheinlich wäre es vernünftiger, sich noch einmal hinzulegen. Aber Fina wusste, dass die Anspannung ihr keine Ruhe lassen würde.
Während sie auf leisen Sohlen die Treppe hinunterschlich, ahnte sie, dass ihre Mutter ebenfalls aufgestanden war.
Fina hielt inne. Vielleicht würde sie auch dieses Mal etwas herausfinden, wenn sie nur leise genug war. Gleiches mit Gleichem … Wenn ihre Mutter sich nachts aus dem Haus schlich, um geheimen Verabredungen nachzugehen, dann durfte Fina wohl auch durch das Haus schleichen, um geheime Machenschaften aufzudecken.
Tatsächlich drang ihr der Duft von Kaffee schon in der Diele entgegen. Fina folgte ihm, bis sie durch die offene Tür in die Küche sehen konnte. Ihre Mutter saß am Küchentisch und schrieb etwas in ein kleines, hübsches Büchlein, das schon ganz abgewetzt war vom vielen Umblättern, Lesen und Hineinschreiben.
Ein Tagebuch.
Fina versuchte, sich so geräuschlos wie möglich in die trübe Dunkelheit des Flures zu ducken, um nicht vorzeitig entdeckt zu werden.
Ihre Mutter führte also ein Tagebuch. Seit mehr als achtzehn Jahren lebte Fina mit ihr zusammen, ohne jemals davon erfahren zu haben.
Ein Tagebuch – der Kelch der Wahrheit. Das misstrauische Tier in Finas Brust wurde still vor Spannung, es wollte sie dazu bringen, sich anzuschleichen und im letzten Moment nach dem Buch zu greifen, nur um mit der Beute davonzurennen und dann gierig zu verschlingen, was darin stand.
Dummes, gieriges Tier! Viel besser war es doch, das Opfer zu beobachten, das Versteck auszuspionieren und den Kelch später in aller Ruhe zu leeren.
Fina erschrak über ihre Gedanken. Seit wann war sie so hinterhältig? Seit wann hatte sie keine Achtung mehr vor dem Privatleben ihrer Mutter?
Seitdem sie verraten wurde – seitdem sie wusste, dass sie belogen und verraten wurde.
Ein unkontrollierter Laut grummelte aus ihrer Kehle.
Ihre Mutter zuckte zusammen, ihr Blick fuhr auf und begegnete Fina, dem Raubtier, das in der Dunkelheit lauerte.
»O Gott, Fina!« Susanne fasste sich an die Brust. »Hast du mich erschreckt. Seit wann schleichst du dich so an?«
Fina ging mit langsamen Schritten zur Küchentür. Sie spürte, wie sich ihr Mund zu einem schiefen Grinsen verzog. »Ich dachte, du schläfst noch, und wollte dich nicht wecken.«
Ihre Mutter lächelte. »Das ist lieb von dir. Aber ich konnte nicht so gut schlafen.« Wie beiläufig schloss sie das Tagebuch und nahm es in die Hand, als wäre es eine Zeitung, die sie gleich in den Müll werfen wollte.
Fina versuchte, nicht darauf zu schauen, versuchte, keinen Verdacht zu wecken. Sie musste unbedingt beobachten, wohin ihre Mutter das Tagebuch legte.
»Magst du einen Milchkaffee?« Ihre Mutter stand auf und ging zur Espressomaschine.
»Ja, gerne.« Fina beobachtete den Rücken ihrer Mutter, verfolgte die Bewegung ihrer Arme. Wohin würde sie das Buch bringen? Konnte sie Milch erwärmen und Kaffee eingießen, ohne es aus der Hand zu legen?
Im Vorbeigehen schob ihre Mutter es in ihre Handtasche, die an einer
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