Der geheime Name: Roman (German Edition)
an diesen Ort. Ich weiß es, auch wenn ich mich nie daran erinnern kann, wo ich gewesen bin. Und wenn ich dann aufwache, ist der Ort wieder verschwunden, und mir bleibt nur das Gefühl von einem schrecklichen Abschied.
Du kennst das schon, liebe Großmutter, so oft, wie ich Dir von meinem »Geheimen Traum« geschrieben habe. Aber in letzter Zeit ist es besonders schlimm. Oder besonders schön? Ich weiß es nicht. Inzwischen kommt der geheime Traum fast jede Nacht zu mir. So, als wollte er mir etwas Wichtiges sagen. Aber verflucht: Nichts von seiner Bedeutung überdauert meinen Schlaf! Der Traum hält sich vor mir versteckt, macht ein Geheimnis aus sich selbst, als wollte er mich verspotten.
Nur heute ist ein kleines bisschen mehr geblieben als sonst: Als ich die Augen geöffnet habe, hatte ich plötzlich das starke Gefühl, dass ich bis gerade eben zu Hause war. Man könnte meinen, dass ich gar nicht weiß, wie sich ein Zuhause anfühlt. Aber in diesem Moment eben, da wusste ich es. Es war vertraut, warm und sicher. Endlich nicht mehr diese Unruhe, von der ich mein Leben lang gehetzt wurde. Mir kam es so vor, als hätte ich den Geruch von Milchreis in der Nase, und auf einmal musste ich an Euch denken. An unseren Besuch, als wir damals bei Euch waren, erinnerst Du Dich? Nur dieses eine Mal habe ich Dich und Großvater gesehen. Damals muss ich drei oder höchstens vier Jahre alt gewesen sein. Du hast an diesem Abend Milchreis gekocht. Bislang hatte ich es vergessen, aber jetzt erinnere ich mich wieder daran, wie ich in Eurem Wohnzimmer saß und der Duft aus der Küche zu mir herüberzog.
Ich muss versuchen zu verstehen, wie das alles zusammenhängt: Ich träume also seit Jahren diesen Traum, an den ich mich nie erinnern kann. Und jetzt wache ich auf und fühle plötzlich, dass ich dort, in dem Traum, zu Hause bin. Ausgerechnet in diesem Moment muss ich auf einmal an den Besuch bei Euch denken. Ist das ein Hinweis darauf, dass ich in dem Traum auch bei Euch war? Dass ich bei Euch mein Zuhause finden könnte?
Ich bin verwirrt. Und gerade jetzt komme ich mir so vor, als würden meine Gedanken mit mir durchgehen, weil ich noch halb schlafe.
Das mit dem Milchreis: Ist das ein uralter Familienzauber? Hast Du Susanne auch schon mit warmem Milchreis getröstet, wenn sie traurig war? Oder werfe ich zwischen Traum und Halbschlaf alles durcheinander?
Falls Du das Milchreis-Trösten tatsächlich erfunden hast, dann hat sie es mir nie erzählt. Sie hat mir fast nichts über Euch erzählt. Nichts, nichts, nichts!
Aber sie ist ja ohnehin eine Lügnerin. Das weiß ich jetzt. Ich weiß zwar noch nicht, was sich hinter ihren Lügen verbirgt – aber das werde ich heute herausfinden!
Fina kritzelte das letzte Ausrufezeichen so tief in das Papier, dass es beinahe zerriss. Mit einem Fluchen schlug sie das Tagebuch zu, öffnete ihre Schublade und knallte es hinein.
Für meine liebe Großmutter, Buch 15: Provence – die goldgeschwungenen Lackbuchstaben auf der Vorderseite der Kladde leuchteten ihr noch kurz entgegen, bevor sie die Schublade wieder zuwarf.
Alles eine Lüge! Das Misstrauen in ihrer Brust grollte sein tiefes Knurren.
Selbst ihre Großmutter, der sie seit Jahren jammervolle Tagebücher schrieb, war nicht mehr als ein sorgsam gehütetes Geheimnis ihrer Mutter. Wenn Fina sich nicht daran erinnern könnte, dass sie einmal dort gewesen waren, dann wüsste sie nichts von ihrer Oma und ihrem Opa. Ihre Mutter verschwieg diese Familie genauso wie alles andere aus ihrer Vergangenheit. Nur ein einziges Mal hatte Susanne Finas Großvater erwähnt: als Fina sie gefragt hatte, wie sie zu ihrer Immobilienfirma gekommen war. Angeblich hatte sie die Häuser und das kleine Unternehmen von ihrem Vater übernommen, als er sich selbst nicht mehr darum kümmern konnte. Aber inzwischen erinnerte Fina sich an die Details, die ihre Kinderaugen von dem Haus ihrer Großeltern aufgenommen hatten, von dieser kleinen, heruntergekommenen Mühle in der Lüneburger Heide: Sie sah die vergilbten, geblümten Tapeten eines Wohnzimmers, das lange nicht mehr renoviert worden war. Sie erkannte den bröckelnden Putz und das schiefe, löchrige Dach der Mühle. Selbst die Kleidung ihrer Großmutter wirkte ausgewaschen und zerschlissen. Fina sah ihren Großvater, dessen Hemdsärmel auf der einen Seite leer herunterbaumelte und der seinen verbliebenen Arm kaum bewegen konnte. Schreckliche Spuren eines Unfalls schienen es zu sein, die zu dem unglücklichen
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