Der geheime Name: Roman (German Edition)
Lederbänder zerrissen seine Haut, eine wütende Stimme kreischte über ihn hinweg. Fina erkannte die Peitsche und die Hand, die sie führte – eine riesige Hand mit einem zweiten Daumen an der anderen Seite.
Fina fuhr auf. Sie schnappte nach Luft, röchelte und keuchte, als hätte sie seit Minuten nicht mehr geatmet.
»Fina! Was ist los?« Erschrocken drehte sich ihre Mutter nach hinten. Sie saßen noch immer im Auto, waren noch immer auf der Autobahn. Nur das Licht hatte sich verändert, so als wäre die Sonne weitergewandert. Sie hatte geschlafen! Lange geschlafen.
»Nun rede doch endlich! Was hat er dir getan?«
Mora hatte es nicht geschafft, seinen Herrn zu töten! Er war in Gefahr! »Ich muss sofort zurück! Bringt mich zurück!«
Ihre Mutter stutzte, schüttelte schließlich den Kopf. »Keine Angst. Er hat dir nur einen Traum geschickt. Damit manipuliert er uns. Nur deshalb denkst du, dass du zurück möchtest.«
Fina schnappte erneut nach Luft. Wovon redete sie? Die ganze Zeit schon redete sie von ihm – wen meinte sie? Mora?
Nein, nicht Mora. Ihre Mutter sprach von seinem Herrn! Schon seit sie vor der Mühle aufgetaucht war, sprach sie von ihm!
Fina starrte aus dem Fenster auf die Autobahn. Sie fuhren auf der linken Spur. Die Landschaft raste an ihnen vorbei, und die Autos rechts von ihnen schienen zu schleichen, fielen eines nach dem anderen hinter ihnen zurück.
Noch nie im Leben war sie so schnell Auto gefahren. Nur in Deutschland durfte man so schnell fahren.
»Du bist ihm entkommen, Fina. Nur das zählt.« Ihre Mutter lächelte sie an. »Vergiss den Traum. Du bist in Sicherheit.«
Dies alles war ein Traum! Ihr Vater, das Auto – das Moor und Moras Herr.
Oder nicht? Fina blickte zwischen ihren Eltern hin und her. Wenn es kein Traum war, dann …
… dann wussten ihre Eltern etwas über diese Kreatur. Etwas, das sie ihr all die Jahre verschwiegen hatten.
Finas Blick fiel erneut aus dem Fenster auf die blau-weißen Schilder: München, 55 km. Etwas in ihrem Inneren rebellierte, stieß das Traumgefühl beiseite und ließ die Wut aufschäumen. »Wohin bringt ihr mich?«
Ihre Mutter lächelte noch immer. »Erst mal nach Hause.«
Fina lachte auf, unkontrolliert und hysterisch. »Nach Hause? Es gibt ein Zuhause? Das ist echt das Witzigste, was ich je gehört habe.«
Das Lächeln ihrer Mutter erstarb. »Wir konnten nie dorthin, Fina. Versteh das doch.«
Fina lachte weiter, konnte nicht mehr damit aufhören. »Und was ist mit dem da?« Sie zeigte auf ihren Vater. »Ist das nicht der, der dich umbringen und mich entführen wollte? Der Stalker, Mörder und Kinderschänder? Was macht der so plötzlich hier?«
Ihr Vater rührte sich zum ersten Mal, blickte zu ihrer Mutter und krauste die Stirn. »Hast du ihr das erzählt? Dass ich ein Kinderschänder wäre?«
»N… Nein!«, stammelte ihre Mutter. »Ich hab ihr nur erzählt, was wir abgesprochen haben.«
Fina verzog das Gesicht. »Was du mit mir tun würdest, wollte sie sich lieber gar nicht erst vorstellen. Kam mir irgendwie so vor, als würde da der Kinderschänder zwischen den Zeilen stehen. Keine Ahnung, wie ich darauf komme.«
Sie traf den Blick ihres Vaters im Rückspiegel. Er hatte tatsächlich die gleichen braunen Augen wie sie. Wehmut lag darin, eine stumme Entschuldigung, von der sie nichts wissen wollte.
»Aber eigentlich ist er ja ein Diplomat.« Fina ließ ihre Stimme hart klingen. »Irgendein Agent oder so. Dank meiner geheimen Quelle durfte ich das auch endlich erfahren.«
Ihr Vater blickte wieder nach vorn. Fast hatte sie den Eindruck, als würden sich seine Schultern in einem langen Seufzer anheben. Doch seine Stimme klang ruhig, als er sprach. »Ich bin kein Agent. Nur ein Diplomat. Früher war ich im auswärtigen Dienst an verschiedenen Botschaften, in Rumänien, Bulgarien … Aber inzwischen bin ich bei der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Wir setzen uns aus sechsundfünfzig Teilnehmerstaaten zusammen und sind, grob gesprochen, dafür zuständig, den Frieden in Europa zu erhalten und bei Konflikten zu vermitteln. Bei meinem derzeitigen Amt geht es aber vor allem um die internationale Bekämpfung des Menschenhandels.«
Ein weiteres Mal entschlüpfte Fina ein Lachen. Er bekämpfte den Menschenhandel! Sie konnte kaum noch aufhören zu lachen. Ausgerechnet der Mann, der sie angeblich zeit ihres Lebens entführen wollte, bekämpfte den Menschenhandel. Fina musste es ihm unbedingt
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