Der geheime Name: Roman (German Edition)
erneut. »Selbstverständlich.«
* * *
Das Speisezimmer war genauso groß wie die Eingangshalle. Sie saßen am Kopfende einer langen Tafel, vor ihnen ein wertvolles Service und silberne Kerzenleuchter. Finas Blick fiel aus einer breiten Fensterfront, die eine wunderschöne Aussicht über den Park eröffnete. Alles war unter einer Schneedecke begraben. Doch die kahlen Gehölze waren zu ordentlichen Formen geschnitten, leiteten ihren Blick durch eine Reihe von Torbögen bis zu einer weiten, weißen Fläche, die von Bäumen umsäumt war. Fina ahnte, dass es ein See sein musste. Ganz am Ende der Blickachse, am gegenüberliegenden Ufer, schimmerte ein gläserner Pavillon.
Fina bemerkte, wie ihr Mund offen stand. Sie spürte die Blicke ihrer Eltern auf sich ruhen, und plötzlich kehrte ihre Wut zurück. »Könnt ihr mich jetzt bitte mal aufklären! Bin ich irgend so eine verfluchte Prinzessin?«
Auf dem Gesicht ihres Vaters erschien ein entwaffnendes Schmunzeln. »Nicht ganz, aber nah dran!«
Fina starrte ihn an, betrachtete seine Augen, die ihren so verwirrend ähnlich sahen. Er sah tatsächlich immer noch so gut aus wie auf dem Foto, das sie vor langer Zeit aus dem Mülleimer gefischt hatte.
»Wir stammen aus einer langen Linie von Adeligen ab, darunter auch aus einer unbedeutenden Nebenlinie der Wittelsbacher. Wenn man bedenkt, dass es aber gar nicht mehr so viele Nachkommen in den Hauptlinien gibt, bist du schon recht nah dran an einem Prinzessinnentitel.« Sein Schmunzeln wurde noch charmanter, so einnehmend, dass Fina für einen Moment fast darauf hereinfiel.
Sie wollte sich nicht von ihm umgarnen lassen! Stattdessen kniff sie die Augen zusammen. Wittelsbacher … Als würde sie sich mit deutschen Adeligen auskennen. Wenn er jetzt Habsburger oder Hohenzollern gesagt hätte …
Diese ganze Unterhaltung konnte nicht real sein. Ihr ganzes Leben war irgendwie – abgerutscht, hatte sich in einen seltsamen Fantasyfilm verwandelt. War ihre Mutter nicht diejenige, die es nicht gut fand, wenn sie zu viel Fantasy las? Fina funkelte sie an.
Ihre Mutter räusperte sich, wich ihrem Blick aus und wandte sich dem Apfelkuchen zu. Sie suchte ein schönes Stück aus und legte es auf Finas Teller. »Magst du Sahne dazu?«
Finas Magen rebellierte. Mora war in Gefahr, womöglich wurde er gerade umgebracht, ihretwegen, weil ihre Mutter ein absurdes Versprechen gegeben hatte, das sie nun nicht hielt. Und sie saßen hier und aßen Apfelkuchen?
Fina schlug die flache Hand auf den Tisch, brachte das Geschirr und die Kerzenleuchter zum Klirren. »Verflucht noch mal! Ihr erzählt mir jetzt, was das für eine Scheiße ist, die ihr da verzapft habt! Danach überlege ich mir, ob ich jemals wieder was essen will!«
Ihre Mutter ließ den Sahnelöffel sinken. Sie wechselte einen Blick mit ihrem Vater, mit Robert.
Fina rümpfte die Nase. Sie konnte ihn nicht Papa nennen. Und sie wollte ihre Mutter nicht mehr Mama nennen. Robert und Susanne. Es wurde Zeit, dass sie anfing, sich an ihre Vornamen zu gewöhnen.
»Das ist eine sehr lange Geschichte«, erklärte Susanne leise.
Fina hatte keine Zeit für eine lange Geschichte. Dennoch blieb ihr keine Wahl: »Dann fang endlich an!«
Susanne räusperte sich erneut. »Es fängt in meiner Jugend an, mit deinem Großvater. Vielleicht hat Oma Klara dir davon erzählt: Als ich klein war, hatte er diesen Unfall in der Mühle, bei dem ihm beide Arme zertrümmert wurden. Danach war das Glücksspiel seine einzige Lebensfreude. Er hat jede Gelegenheit zum Spielen genutzt und dabei weit mehr verloren als gewonnen. Aber ein Mal hat er in einem Preisausschreiben den ersten Platz abgeräumt: eine Luxuskreuzfahrt für zwei Personen.« Susanne griff wieder zum Kuchenheber. Mit bebenden Händen legte sie sich selbst ein Stück auf den Teller. »Deine Oma hat ihm immer große Vorwürfe gemacht wegen seiner Spielerei. Also hat er mich auf diese Kreuzfahrt mitgenommen. Ich war damals achtzehn Jahre alt, und es war meine erste richtige Reise. Bis dahin hatten meine Eltern nicht einmal genug Geld, um die Klassenfahrten für mich zu bezahlen.« Ein trauriger Schimmer lag in Susannes Augen. Sie starrte in den Kaffee, den Robert ihr eingoss, und sprach nachdenklich weiter. »Meine Eltern waren damals so arm, dass ich keinen meiner Träume verfolgen konnte. Ich konnte kein Abitur machen, obwohl ich die besten Noten in meiner Klasse hatte. Stattdessen musste ich so schnell wie möglich eine Ausbildung anfangen und
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