Der geheime Name: Roman (German Edition)
lindert.«
Fina zwang sich zu einem Lächeln. Doch die Stimme ihres Vaters lockte sie zurück zur Wohnzimmertür. Er sprach zu leise, um etwas zu verstehen, aber sein Tonfall klang aufgewühlt.
Sie fühlte sich schwindelig, als sie die Hand auf die Klinke legte. Sie wusste nicht, ob sie schon so weit war. Doch die Fragen drängten sie, würden nicht lockerlassen … »Ich muss es wissen«, flüsterte Fina, versuchte, sich Mut zuzusprechen. Schließlich öffnete sie die Tür, trat ins Wohnzimmer und blickte in die verstörten Mienen ihrer Eltern. Ihre Mutter sah vom Sofa aus zu ihr auf, sie hielt ihre Knie umschlungen, und ihr Gesicht war noch immer nass von den Tränen. Ihr Vater lief vor den beiden Fenstern auf und ab und blieb stehen, als er Fina bemerkte. Er war so bleich, als hätte er gerade einen Geist gesehen.
Fina starrte zu ihrer Mutter, am liebsten wollte sie Susanne anschreien, aber wieder kam nur ein Krächzen aus ihrem Mund: »Was hast du mit Mora getan?«
Susanne wich ihrem Blick aus, ihre Finger zwirbelten an den Zipfeln einer Wolldecke.
Fina hielt es nicht mehr aus. »Er ist ein Roma, oder?«
Susanne sah überrascht zu ihr auf. »Woher …?«
Der Boden unter Finas Füßen begann sich zu drehen. »Woher ich das weiß? Weil ich eins und eins zusammengezählt habe. Weil du geheult hast damals, als wir in Siena an der Ampel standen und du dem Roma-Jungen fünfzig Euro gegeben hast. Und weil Mora so aussieht wie dieser Junge, der unsere Autoscheiben geputzt hat. Selbst sein Name ist ein Anagramm: Mora – Roma. Du hast ihn so genannt! Bevor du ihn ins Moor zu dem Alten gebracht hast. Ist es nicht so?«
Susanne zuckte unter ihren Worten zurück. Fina konnte sehen, wie neue Tränen aus ihren Augen strömten, doch ihre Mutter tat ihr nicht leid. Sie sollte endlich die Wahrheit sagen!
»Ich weiß nicht genau, ob er ein Roma ist.« Susanne flüsterte. »Ich habe es nur immer angenommen, weil er so aussah und weil seine Mutter so aussah.«
Fina wurde still, selbst ihr Körper erstarrte, um keines der Worte zu verpassen.
»Seine Mutter war ein rumänisches Straßenkind, höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Sie hätte ihr Baby auf jeden Fall verkauft, wenn nicht an mich, dann an jemand anderen.«
Fina taumelte, wich zur Seite und fing sich an dem Sessel, der vor dem Kamin stand. Sie setzte sich langsam hinein, starrte Susanne an und lauschte der abstrusen Geschichte, die ihre Mutter nach und nach enthüllte. Sie lauschte der Verzweiflung, die Susanne erfüllt hatte, als sie schwanger geworden war, damals in Rumänien, als sie mit Robert in Bukarest gelebt hatte, weil er dort in der deutschen Botschaft arbeitete. Susanne erzählte, wie sie erfahren hatte, dass ihr Kind tatsächlich ein Mädchen werden würde, und wie der Wicht von da an Nacht für Nacht in ihren Träumen erschienen war, um seinen Lohn zu verlangen. Fina konnte die Angst um das ungeborene Kind verstehen, konnte die schwangere Frau fast vor sich sehen, wie sie Tag für Tag durch die Straßen von Bukarest streifte, um sich von den furchtbaren Träumen abzulenken.
Und schließlich lernte sie die Straßenkinder kennen, die auf den Plätzen und in den Bahnhöfen herumlungerten. Sie sah die kleinen dreckigen Gesichter und die ausgestreckten Hände, wenn sie bettelten. Sie hörte ihre rauhen Stimmen und beobachtete die Gruppen, in denen sie durch die Stadt zogen. Es waren lose Gruppen, in denen es keine Freundschaft gab, keine Fürsorge und keine Liebe, und die sich nur bildeten, weil sie gemeinsam stärker waren und leichter überlebten.
Fina kannte solche Bilder, in Bombay hatte sie Straßenkinder beobachtet. Sie waren ihr wie ein wildes Rudel erschienen, dem jede Grundlage zum Leben entzogen war und in dem jeder für sich kämpfte, um den nächsten Tag zu überstehen.
Während ihre Mutter weitererzählte, sah Fina die Kinder vor sich, beobachtete ihr Gerangel, wenn sie um etwas stritten. Und sie stritten sich um fast alles, um jedes dreckige Brotstück, das eines von ihnen gefunden hatte, um jede Münze, die ihnen zugeworfen wurde, und um neues Aurolac für ihre Klebstofftüten. Tag und Nacht hielten sie die Plastiktüten mit der silbrigen Flüssigkeit in ihren Händen, tauchten ihre Nasen hinein und schnüffelten die giftigen Lösungsmittel – um ihre Gefühle zu betäuben, um stumpf zu werden und die Pein ihres Lebens nicht mehr wahrzunehmen.
Die kleinen Kinder bekamen noch Geld, wenn sie bettelten, weil sie süße
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