Der geheime Name: Roman (German Edition)
Gesichter besaßen und große Augen. Aber wenn sie größer wurden, mussten sie stehlen, um zu überleben, mussten auf den Strich gehen und ihre Körper an grausame Freier verkaufen.
Es waren wilde und verlorene Kinder, für die nur ein Gesetz galt: das des Stärkeren. Jegliches Mitleid erstickten sie in den Dämpfen des Klebstoffes, bis sie selbst in der Hierarchie aufstiegen und zu brutalen Zuhältern wurden, die sich die kleineren Straßenkinder unterwarfen. Falls sie so lange überlebten.
Während Susanne ihre Geschichte erzählte, sah Fina das Leid der Kinder vor sich. Sie begleitete ihre Mutter, als sie sich mit einer Gruppe von kleineren Kindern anfreundete, als sie mit ihnen in die Kanalisation eintauchte, in der die Kleinen lebten. Fina roch den Gestank der Fäkalien und wusste plötzlich, dass das hier weitaus schlimmer war als das seltsame Märchen, das ihre Mutter durchlebte.
Aber plötzlich war die eigene Bedrohung zurück. Susannes Tochter wurde geboren, und der Wicht verlangte seinen Lohn. Er drohte damit, sie zu ermorden, wenn er Fina nicht bekam – und es schien keinen Ausweg zu geben, um seiner Rache zu entkommen.
Susanne hatte nicht geplant, was sie schließlich in die Tat umsetzte. Es ergab sich einfach, als sie plötzlich in einer Seitengasse neben dem Markt diesem Straßenmädchen und ihrem Baby gegenüberstand. Beide hatten braune Haut, viel dunkler als die Haut der Rumänen, so wie die der Roma, die ebenfalls zu Tausenden auf den Brachflächen der Stadt hausten und um ihr Überleben kämpften. Auch dieses Mädchen war ein Straßenkind, verstoßen und verloren, wie all die anderen Straßenkinder. Ihr Baby trug ein Schild um den Hals, auf dem stand, dass es zu verkaufen sei.
Susanne wusste, dass das Kleine verloren war. Entweder das Mädchen würde einen Käufer finden, jemanden, der das Kind weiterverkaufen oder prostituieren würde, wie es täglich mit Tausenden Kindern geschah – oder das Kleine würde auf der Straße aufwachsen, in der Kanalisation hausen und früher oder später an den Drogen zugrunde gehen. Susanne betrachtete das Lächeln des Babys und wollte nicht, dass es dieses Schicksal erfuhr. Doch gleichzeitig formte sich ein klarer Plan vor ihrem inneren Auge, ein schrecklicher Plan, vor dem sie am liebsten zurückzucken würde: Dieses Kind wäre ihr Ausweg, die einzige Möglichkeit, wie sie die Forderung des Wichtes erfüllen und Fina trotzdem behalten könnte. Sie müsste es nur kaufen und zu Rumpelstilzchen ins Moor bringen.
Susanne zögerte. Sie wollte es nicht tun. Kein Kind dieser Welt sollte bei so einem Wicht aufwachsen. Aber wenn sie das Kind nicht kaufte, würde es jemand anderes tun – und ein weitaus schlimmeres Schicksal besiegeln.
Susanne musste sich entscheiden, musste handeln, bevor das Mädchen mit dem Baby auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde. Also kaufte sie das Kind.
Doch als sie den Jungen schließlich bei sich hatte, brachen die Zweifel über sie herein. Sie hatte ein Kind gekauft und wollte es gegen Gold eintauschen – wie eine Menschenhändlerin. Aber schon, als sie ihn auf dem Arm hielt, brachte sie es nicht mehr übers Herz. Es war ein süßer, hübscher Junge, der sie anlächelte und ihr vertraute.
Susanne zögerte. Sie konnte so etwas nicht tun, nicht sofort, sie musste erst überlegen. Also mietete sie sich mit dem Kind in einem Hotel ein und ließ Fina mit dem Kindermädchen und Robert allein.
Doch bereits in der ersten Nacht musste sie anfangen, das Baby zu stillen, weil es Hunger hatte und ihre Milch das Einzige war, was sie dabeihatte. Sie nannte den Jungen Mora und verliebte sich in seine schwarzen Augen, in sein hübsches Gesicht und das süße Lächeln – bis sie ihn genauso wenig wieder hergeben wollte wie ihre eigene Tochter. Wochenlang suchte sie nach einer anderen Lösung, aber sie fand keine. Stattdessen wurden die Forderungen des Wichtes immer energischer, und sie wollte immer dringender zu Fina zurückkehren. Also ging sie den schrecklichen Weg zu Ende, den sie eingeschlagen hatte, und brachte den Jungen zu dem Alten, in der Hoffnung, dass er gut zu dem Kind sein würde, besser als die Zukunft, die in Rumänien auf Mora gewartet hätte.
Für einen Moment sah Fina Mora vor sich, mit zerschlissener Kleidung in einem dunklen U-Bahn-Tunnel, wie er einen kleineren Straßenjungen am Arm fasste und mit lallender Stimme das Geld von ihm verlangte, das er an diesem Tag erbettelt hatte. Sie sah die Tüte mit dem Klebstoff,
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