Der geheime Name: Roman (German Edition)
reichte.
Fina wollte den Augenblick einfangen. Sie fokussierte schnell, sah nur von weitem auf das Display und drückte ab.
Mora zuckte zusammen unter dem Blitz. Dann lachte er auf, sein süßes, überraschtes Lachen, das seine Augen zum Leuchten brachte.
Fina drückte ein zweites Mal ab. Ein drittes Mal, weil er immer lauter lachte und dabei so glücklich aussah wie noch nie zuvor.
Schließlich hörte sie auf, betrachtete die Bilder und drohte auf die gleiche Weise darin zu versinken wie Mora. Sie hatte die richtigen Momente erwischt. Die Fotos waren großartig: drei Bilder, die alles von ihm zeigten, was so besonders an ihm war, was ihn von jedem anderen jungen Mann unterschied, und weshalb sie wahnsinnig werden würde, wenn er sie nicht endlich berührte. Wenigstens sollte er sie in den Arm nehmen, so wie an dem Abend, an dem sie wiedergekommen war.
Finas Herz fing an zu rasen. Es kam ihr vor, als müsste Mora bemerken, wie verwirrt sie war. Sie wollte sich von den Fotos losreißen, erinnerte sich schließlich daran, warum sie die Kamera überhaupt herausgeholt hatte: Sie wollte wissen, wie spät es war.
Es war weit nach Mitternacht. Silvesterraketen schien es in Moras Welt nicht zu geben.
* * *
Mora mochte Finas Zauberbilder, mochte sie genauso sehr wie ihre Zauberbücher, aus denen sie ihm wieder vorlas. Tagelang saßen sie sich gegenüber, und er hörte ihrem Wortstrom zu. Manchmal gab sie ihm die Kamera, und er betrachtete die Fotos, die zu ihren Worten passten, Bilder von einer jüngeren Fina, von Landschaften, Menschen und Städten, die es draußen in ihrer Welt zu geben schien. Immer tiefer versank er darin, bis er die Höhle und sein eigenes Leben fast vergaß. Er betrachtete auch Finas Mutter auf den Bildern, hörte die Gedanken des Mädchens dazu und erlebte das Auf und Ab, das sie beschrieb. Manchmal fühlte er die Geborgenheit, die eine Mutter geben konnte, fühlte die Sicherheit und Freundschaft, bis er sie schmerzlich vermisste, und dann wieder hasste er ihre Mutter, weil sie über Fina bestimmte, weil sie über sie herrschte und immer wieder alles auseinanderriss, was das Mädchen gerade glücklich gemacht hatte.
Tage und Nächte verschwammen ineinander, während Fina immer weiterlas und Mora nicht aufhören wollte, ihr zu lauschen. Immer ungehemmter fragte er sie nach den Worten, die er nicht kannte, und Fina erklärte ihm unermüdlich alles, was er wissen wollte.
Sie war so anders als sein Herr. So viel wärmer, schöner und um so vieles gütiger. Und je mehr sie über sich und ihr Leben vorlas, desto eher verstand er, was sie eigentlich war: eine junge Frau, die bis vor kurzem noch ein Kind gewesen war, ein Mädchen, das sich in etwas Stärkeres verwandelt hatte und das sich nun von der Frau befreien wollte, die ihr Leben beherrscht hatte. Dabei steckte sie voller Wut auf ihre Mutter und war gleichzeitig erfüllt von der Furcht, ohne sie allein zu sein.
Mora erkannte sich selbst in ihr, seine eigenen Ängste. Doch trotz aller Ähnlichkeit war sie weder eine Dienerin noch eine Herrin, und auch nicht die Zauberin, für die er sie zuerst gehalten hatte. Ihre Worte waren keine Zauberformeln. Sie entstammten nur einer Technik, welche die Menschen erfunden hatten, um Gedanken festzuhalten, damit man sie für andere Menschen und zu späteren Zeiten wieder hervorholen konnte. Fina nannte es Schreiben und Lesen, und Mora wusste bald, dass er es auch lernen wollte.
Während sich die Schneedecke draußen immer dicker über die Höhle legte, verloren sie jegliches Gefühl für Tag und Nacht. Sie schliefen abwechselnd, Mora meistens dann, wenn Fina lange gelesen hatte, für eine kurze Schlafphase, bis ihn der erste Traum aufschrecken ließ – und Fina für lange Stunden, während er neben ihrem Lager saß und ihr Gesicht in Gold schnitzte.
Er konnte kaum aufhören, sie anzusehen – ihre rehbraunen Augen, wenn sie wach war, ihre goldgelben Haare, wenn sie las, und ihre weiche Haut, wenn sie schlief. Ihre Haut war etwas heller geworden, seitdem sie bei ihm war, fast blass und verletzlich im Vergleich zu seiner.
Mora wollte Fina beschützen, wollte für immer in ihrer Nähe sein – er wollte sie besitzen. Je länger sie zusammen in der Höhle saßen, desto stärker wurde das verbotene Gefühl. Immerzu wollte er sie berühren, wollte ihre Haut streicheln und wünschte sich, ihren Körper zu sehen.
Manchmal, während er ihr beim Schlafen zusah, wurde das Gefühl so stark, dass er es nicht mehr
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