Der Geheime Orden
Williams ging ein und aus und genoss Privilegien, die selbst eingeschriebenen Studenten verwehrt wurden. Bei den Bibliotheksangestellten war er wohl bekannt; mit der Aktentasche unter dem Arm spazierte er an ihnen vorbei und entbot ihnen gar ein freundliches »Gute Nacht«, als er an ihnen und den Sicherheitsbeamten der Universität vorbeimarschierte und dabei einige der wertvollsten Bücher der Bibliothek in seiner Tasche versteckt hatte.
Damit endete der Artikel. Ich blieb noch für ein paar Minuten sitzen – mit dem Gefühl, dass jemand eine Filmrolle in der Mitte angehalten hatte. Es wurde erwähnt, dass Williams mindestens einen kompletten Satz Bücher zu einem maritimen Thema entwendet hatte, doch konkrete Titel von anderen gestohlenen Werken wurden nicht genannt. War es möglich, dass Joel Williams den Christlichen Feldzug gestohlen und die zwei Seiten herausgeschnitten hatte? Die Antwort musste im unterirdischen Tresorraum der Houghton-Bibliothek liegen.
Dann kam mir eine andere Idee. Vielleicht war irgendwo verzeichnet, wann die Ausgabe von 1604 erworben worden war und in welchem Zustand sie sich zu dieser Zeit befunden hatte. Wenn die zwei Seiten bereits gefehlt hatten, als Harvard das Buch erwarb, wäre dies bestimmt vermerkt worden. Ich ging erneut zum Empfangsschalter und wartete, bis Peggy ihr Telefongespräch beendet hatte.
»Führen die Bibliotheken Buch über ihre Erwerbungen?«, fragte ich.
»Natürlich, aber die Art der Aufzeichnungen hängt vom Wert des Buches und von der Epoche ab, in der es erworben wurde«, sagte sie.
»Wie nennt man diese Aufzeichnungen?«
»Akzessionsliste.«
»Kann man sie sich ansehen?«
»Ja, sicher, sie sind der Öffentlichkeit zugänglich.«
»Wie komme ich an die Akzessionsdaten für ein seltenes Buch heran, das der Universität um die Jahrhundertwende gestiftet worden ist?«
»Alle seltenen Bücher und Manuskripte werden in der Houghton-Bibliothek aufbewahrt.«
»Ich weiß, aber Houghton war noch nicht erbaut, als das Buch gestiftet wurde.«
»Dann wird es allerdings knifflig«, sagte sie. »In diesem Fall liegen die Akzessionslisten wahrscheinlich bei uns. Kommt ganz darauf an. Damals waren sämtliche Listen handgeschrieben. Als dann die vielen neuen Bibliotheken erbaut und die Bücher hin und her geschoben wurden, geriet manches durcheinander. Die Houghton-Bibliothek bewahrt einige der Akzessionslisten auf, andere liegen in der Widener-Bibliothek. Wir bewahren die Aufzeichnungen zu den meisten älteren Schenkungen auf.«
»Und wie sieht es mit dem Christlichen Feldzug aus?«, fragte ich.
Sie lächelte. »Irgendwie hatte ich die ganze Zeit den Verdacht, dass es um diesen Titel geht. Lassen Sie mich kurz eine Sache nachschauen …« Sie gab etwas in den Computer ein und kritzelte anschließend auf ein Stück Papier. Dann drehte sie sich zum Bücherschrank direkt hinter ihr um und zog mehrere Aktendeckel heraus, bis sie den fand, den sie gesucht hatte. »Gleich werden wir ein bisschen schlauer sein«, sagte sie und blätterte in den zerknitterten Seiten.
Ich versuchte nachzuvollziehen, was sie gerade tat, doch die Nummern und bibliothekarischen Abkürzungen hätten genauso gut in einer fremden Sprache verfasst sein können. Also wartete ich geduldig, bis sie ihre Nachforschungen beendet hatte.
»Sie haben Glück«, sagte sie. »Wir haben die Akzessionslisten unten im Keller. Ich schicke jemanden, der sie für Sie holt.«
Ich war richtig stolz auf mich, als ich mich wieder an den Tisch setzte und mir den Artikel über Williams ein zweites Mal durchlas. Das Studium der Akzessionsliste könnte mir ein gutes Stück dabei helfen, mir ein Bild über die Herkunft und die früheren Besitzer des Christlichen Feldzugs zu machen und festzustellen, ob jene zwei Seiten schon gefehlt hatten, bevor das Buch nach Harvard gekommen war. In Anbetracht der Tatsache, dass es ein sehr seltenes und wertvolles Buch war, ging ich davon aus, dass die Abteilung, die es erworben hatte, sorgfältig genug gewesen war, detaillierte Aufzeichnungen darüber anzulegen.
Zehn Minuten später sah ich die Botin, die die Akte holen sollte, mit leeren Händen wieder durch die Tür kommen. Ich stand auf und begab mich zum Empfangsschalter.
»Sie war nicht da«, sagte die Botin zu Peggy.
»Bist du sicher?«, fragte Peggy.
»Ich hab überall nachgesehen«, sagte die Botin.
»Vielleicht ist sie verstellt.«
»Das dachte ich auch, also bin ich sämtliche Akten durchgegangen. Sie sind alle
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