Der Geheime Orden
»Aber sie haben’s nicht gefunden. Ich habe es in meinem Zimmer im Haus meiner Eltern versteckt.«
»Bin schon unterwegs«, sagte ich.
Dalton saß mitten im Gemeinschaftszimmer mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden. Er hatte einen glasigen Blick und ein völlig ausdrucksloses Gesicht, als wären seine Muskeln gelähmt. Noch immer trug er seine Jacke und seinen Hut. Er reagierte kaum, als ich zur Tür hereinkam. Das einzige Licht stammte von einer kleinen Lampe auf dem Kaminsims.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich und streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen.
»Ich bin nur ein bisschen schockiert«, sagte er und schaute zu seinem Zimmer hinüber.
Es war still. »Wo sind deine Mitbewohner?«
»Sie schlafen alle.«
»Wurde ihnen auch etwas gestohlen?«
»Ich weiß nicht. Ihre Türen waren geschlossen, als ich nach Hause kam. Ich war im Hong Kong zum Eimersaufen.«
Er griff nach meiner Hand und stand auf. Mit wackeligen Beinen schleppte er sich bis auf die Couch.
»Du bist besoffen«, sagte ich.
»Nicht so besoffen, dass ich nicht merken würde, wenn jemand in meinem Zimmer war.«
»Vielleicht wollte dir jemand bloß einen Streich spielen, als er die Urne genommen hatte«, sagte ich.
»Nie im Leben. Wer immer bei mir gewesen ist – er hat gewusst, wonach er suchte.«
Ich folgte Dalton durch den Gemeinschaftsraum in sein Zimmer. Sobald er das Licht eingeschaltet hatte, war ich überzeugt, dass es keiner seiner Mitbewohner gewesen war, der ihm einen Streich spielen wollte.
»Großer Gott!«, stieß ich hervor und schaute mich im Zimmer um. Es sah aus, als hätte eine Windhose gewütet. Die Schreibtischschubladen waren herausgezogen und umgedreht worden und lagen auf dem Boden. Die meisten seiner Bücher hatte jemand aus den Schränken gezogen und auf einen Haufen geworfen. Sein Kleiderschrank stand offen; der Inhalt lag im ganzen Zimmer verstreut.
»Die Urne war unten in meinem Kleiderschrank versteckt«, sagte Dalton. »Ich glaube nicht, dass sonst etwas fehlt. Zwei meiner guten Uhren lagen im Schrank, aber sie wurden nicht angerührt.«
»Und du bist sicher, dass das Buch der Nachfolge nicht hier war?«, fragte ich.
»Absolut. Nachdem du mir erzählt hattest, dass Brathwaite dir vor deinem Haus aufgelauert hat, hab ich das Buch sofort ins Haus meiner Eltern gebracht und versteckt.«
Dalton ging zu seinem Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab.
»Was hast du vor?«, fragte ich.
»Ich rufe die Universitätspolizei an.«
»Den Teufel wirst du tun!« Ich riss ihm den Hörer aus der Hand und legte ihn zurück auf die Gabel. »Was willst du denen denn erzählen?«
»Dass jemand in mein Zimmer eingebrochen ist.«
»Und eine Urne gestohlen hat, die wir aus einem Grab gestohlen haben?«
Dalton ließ den Kopf gegen die Wand sinken und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Ich kann nicht mehr klar denken«, sagte er.
»Du denkst überhaupt nicht«, sagte ich. »Zieh deine Sachen aus und geh ins Bett. Du musst dir erst das Hong Kong aus deiner Blutbahn schlafen, bevor du irgendwelche Dummheiten begehst.«
»Sie sind da draußen und warten auf uns«, sagte Dalton.
»So langsam glaube ich, dass sie schon von Anfang an da draußen waren«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»An jenem Abend, als wir über die Einladung zur Cocktailparty sprachen, hast du es selbst gesagt. Wir gingen in dein Zimmer, um darüber nachzudenken, was eigentlich passiert, und die letzten Worte, die du damals gesagt hattest, waren: ›Es ist vollkommen unverständlich, dass jemand dich als Mitglied für den Delphic Club vorschlägt. Nichts für ungut, aber du bist das genaue Gegenteil dessen, wonach sie suchen.‹«
»Nichts gegen dich, Spence, aber du entsprichst wirklich nicht dem Idealbild des Mitglieds eines endgültigen Clubs.«
»Eben. Wer immer mich vorgeschlagen hat, verfolgt damit eine ganz bestimmte Absicht. Vielleicht wollen sie mich auf diese Weise besser im Auge behalten können. Anders kann man viele der jüngsten Ereignisse nicht erklären. Zum Beispiel, warum Brathwaite wusste, dass ich an dem Abend, als er mich bis zum Crimson verfolgte, in der Widener-Bibliothek gewesen bin. Und wie konnte Jacobs Dinge über mich wissen, die ich nie einem anderen Menschen erzählt hatte?«
»Aber was wollen sie von dir?«
»Ich weiß es nicht, aber ich denke, dass Jacobs mir all diese Fragen gestellt hat, weil er glaubte, ich wüsste etwas. Vordergründig waren es ganz einfache Fragen, aber er hoffte auf
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