Der Geheime Orden
Arme vor der Brust verschränkt. Sie betrachtete stirnrunzelnd ihre Mutter, dann wandte sie sich an mich: »Vielen Dank, Spencer, aber ich habe einen langen Tag hinter mir, und ich möchte weder einen Kuchen noch Geschenke. Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden.«
»Tut mir Leid«, sagte ich und zog mich aus dem Wohnzimmer zurück. »Ich dachte, ich würde dir eine Freude machen. Vielleicht sollte ich besser gehen.«
»Tu das nicht, Spencer«, sagte Ms. Garrett.
Doch Ashley bat mich nicht zu bleiben, und ich konnte ihr ansehen, dass sie mich aus dem Haus haben wollte, vielleicht auch aus ihrem Leben. Um die Peinlichkeit nicht unnötig zu verlängern, bedankte ich mich bei Ms. Garrett, warf noch einen Blick auf die Geschenke auf dem Küchentisch und rannte die Treppe hinunter und in die kalte Nacht. Erst als ich draußen war, bemerkte ich, dass die Tränen mir in Strömen über die Wangen liefen.
Zwei Tage nach dem Debakel mit Ashley kehrte ich nach einem grässlichen Training in mein Zimmer zurück, als das Telefon klingelte. Es war Dalton.
»Ich hab was gefunden«, sagte er.
»Wo bist du?«
»Auf dem Rückweg von Wild Winds. Ich lande in ungefähr einer Stunde in Boston.«
»Was hast du gefunden?«
»Ein altes Foto von Onkel Randolph, das in einer Kiste im Keller des Wagenhauses lag. Es steckte zwischen den Seiten eines kleinen Buches, einem Mitgliederverzeichnis des Delphic Clubs aus dem Jahr 1950. Ich habe beides mitgenommen.«
»Was ist auf dem Bild zu sehen?«
»Randolph sitzt mit ein paar Freunden zusammen in einem Hof. Ich nehme an, es ist der Hof des Delphic Clubs.«
»Und was tun sie dort?«
»Sie alle tragen lange schwarze Kapuzenmäntel und halten Fackeln in den Händen«, sagte Dalton.
»Und sie sitzen einfach nur da?«
»Ja, aber in einem der Fenster sieht man das Spiegelbild eines Männergesichts. Ich kann es nicht erkennen, aber ich bin mir sicher, dass er sie aus der Ferne beobachtet. Mal sehen, ob ich einen Fotoladen finden kann, der mir den Ausschnitt vergrößert.«
»Ist das Foto datiert?«
»Nein, aber sie scheinen an einer Zeremonie teilzunehmen. Jeder von ihnen trägt ein großes Silbermedaillon um den Hals.«
»Wie viele Männer sind es?«
»Neun.«
»Du glaubst, dass es die Altehrwürdigen Neun sind?«
»Das wäre eine Erklärung.«
»Aber wie konnten wir so ein Glück haben?«
»Warum gewinnen manche Leute in der Lotterie und andere nicht? Das Glück macht keine Unterschiede. Man hat es einfach. Und wenn man’s hat, sollte man es nicht hinterfragen. Nimm, was es dir bringt, und mach das Beste daraus.«
»Und was ist mit dem Buch?«
»Es ist ein Privatdruck der graduierten Mitglieder. Auf einer Seite steht: ›Siebenhundertfünfundzwanzig Exemplare nur für den Gebrauch durch Mitgliedern«
»Was steht drin?«
»Eine Geschichte des Clubs, die Namen ehemaliger und aktueller Funktionsträger und eine Liste der Mitglieder nach Jahrgängen. Das könnte uns helfen, die Initialen RMS unter dem Gedicht aufzulösen.«
»Das wäre gut, denn ich komme in dieser Neufundlandgeschichte nicht weiter. Es gibt zu viel, das man zu dem Thema lesen könnte.«
»Aber ich glaube, dass uns die Fotografie auch etwas erzählen kann«, sagte Dalton. »Das Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelt, könnte uns helfen, ein paar lose Enden zu verknüpfen.«
Dalton und ich verabredeten uns in einem der Zeichensäle des Carpenter Centers, eines der unbeliebtesten Gebäude auf dem Campus. Erbaut nach Plänen des französischen Stararchitekten, erregte es den Unwillen der Traditionalisten durch sein modernes, geometrisches Design, das keine Verbindung mit den klassischen georgianischen Backsteinbauten besaß, welche die Architektur Harvards symbolisierten. Kritiker hatten es als »zwei kopulierende Elefanten« beschrieben, doch es war für die bildenden Künste gebaut worden, und wenn man die Vorliebe vieler Kunstschaffender für alles Exzentrische und Einzigartige kennt, konnte es für sie nichts Aufregenderes geben, als ihren Sitz in diesem eigentümlichen Gebäude zu nehmen.
Weder Dalton noch ich hatten uns eine Meinung zum Carpenter Center gebildet; wir hatten es nur deshalb als Treffpunkt gewählt, weil es uns alles bot, was uns dabei helfen könnte, die Details auf dem Foto zu erkennen: Leuchtkästen, Vergrößerungsgläser und andere fotografische Werkzeuge. Wir zeigten dem Sicherheitsbeamten, der zu den blechernen Klängen eines kleinen Mittelwellenradios
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