Der Geheime Orden
wie immer, trotz ihrer fleckigen Uniform. Wir wussten beide, dass dies der Anfang von etwas ganz Besonderem sein konnte.
Ich war gerade eingeschlafen, nachdem ich vier Mal denselben Absatz in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gelesen hatte, als mein Telefon klingelte. Ich schaute auf die Uhr auf meinem Nachttisch. Fast zwei Uhr am Morgen. Es konnte nur eine einzige Person sein.
»Ich bin’s«, sagte Dalton.
»Wo bist du gewesen, zum Teufel?«, sagte ich. »Ich hab dich heute mindestens fünf Mal angerufen.«
»Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, in den Archiven der Bostoner Polizei herumzuschnüffeln.«
»Was hast du gemacht?«
»Dunhills Geschichte überprüft.«
»Wie bist du an die Akten gekommen?«
»Der Imperator lädt den Polizeipräsidenten einmal im Jahr zum Essen ein.«
»Was hast du herausgefunden?«
»Es gibt eine zentimeterdicke Akte über Moss Simpson. Er war tatsächlich die Bestie, als die Dunhill ihn beschrieben hat. Hatte unten in Mississippi zwei Männer umgebracht, weil sie seine Freundin ausgelacht hatten. Hat dann zehn Jahre im Knast gesessen, wo er zum Priester geweiht und schließlich entlassen wurde. Er zog nach Boston und lebte bei Verwandten. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bis der Delphic ihn engagierte.«
»Warum sollte ein Club wie der Delphic jemanden wie Sampson einstellen? Er scheint mir nicht gerade der ideale Angestellte zu sein.«
»Darüber steht nichts in den Akten. Aber es wird erwähnt, dass er fünfzehn Jahre lang dort gearbeitet hatte, bis er plötzlich einfach verschwand.«
»Was meinst du damit, er verschwand einfach?«
»Eines Tages war er weg. Kein Moss Sampson mehr.«
»Und wann war das?«
»Ungefähr zwei Jahre nach dem Abbott-Fall.«
»Haben die Bullen mit ihm über Abbott gesprochen?«
»Insgesamt fünf Mal. Ich hab den ganzen Tag über den Protokollen gesessen. Er ist kein einziges Mal von seiner Geschichte abgewichen.«
»Was hat er ausgesagt?«
»Dass er in der Halloweennacht nicht im Delphic gewesen sei. Er habe die Nacht zu Hause mit einem seiner Cousins verbracht. Sie hätten Karten gespielt und getrunken. Er wusste nichts von einem Einbruch, und er hatte auch noch nie jemanden namens Erasmus Abbott getroffen.«
»Haben sie ihm geglaubt?«
»Einer der Ermittler hatte seine Zweifel, aber der Cousin bestätigte Sampsons Alibi. Er hätte Sampson drei Dollar abgenommen, und danach wären sie ins Bett gegangen.«
»Also hat Dunhill Sampson doch nicht in dem Fenster gesehen?«, sagte ich.
»Doch, ich glaube schon«, sagte Dalton. »Aber ich nehme an, Sampson hat die Nerven verloren und die Bullen belogen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil sie auch mit der Freundin des Cousins gesprochen haben, und die hat ausgesagt, dass Sampson schon seit ein paar Wochen nicht mehr er selbst gewesen sei. Er sei schweigsam gewesen und habe kaum noch Zeit mit anderen verbracht. Außerdem sei sie in der Halloweennacht bei Sampsons Cousin gewesen, und Sampson selbst sei nicht vor den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen. Sie erinnerte sich, dass sie davon aufwachte, wie er sich Badewasser einließ.«
»Sind die Bullen ihrer Aussage nachgegangen?«
»Das konnten sie nicht mehr. Am nächsten Tag wurden der Cousin und die Frau tot am Hafenkai gefunden, beide mit Kopfschüssen ermordet. Das Verwirrendste daran waren allerdings die 25000 Dollar, die die Cops in den Taschen des Cousins fanden.«
»Das ist viel Geld.«
»Besonders damals. Die Beamten konnten sich keinen Reim darauf machen, dass der Mörder sie nicht mitgenommen hatte. Sie fielen dem Toten praktisch aus den Hosentaschen.«
»Dem Mörder ging es offenbar um etwas viel Wichtigeres als Geld, zum Beispiel um das Schweigen seines Opfers.«
»Das war das Letzte, was die Beamten in die Akten geschrieben hatten. An genau der Stelle blieben die Ermittlungen stehen.«
14
Der Lunch im Delphic hätte nicht besser laufen können. Ich lernte drei neue Mitglieder kennen, die allesamt vertraut mit meinem Hintergrund schienen und mir auf jede erdenkliche Weise entgegenkamen. Wir aßen in einem großen Raum im Kellergeschoss, in dem mit so viel teurem Porzellan und Glas gedeckt war, dass es für ein Staatsbankett gereicht hätte. Zwei Dienstboten, die so alt aussahen, wie der Club war, standen zu unserer Verfügung bereit, schenkten ständig Wein nach und erfüllten jeden Wunsch, selbst solche, auf die ich von selbst nie gekommen wäre. Wir hörten Heldenepen von
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