Der geheime Stern
Moment lang war sein Kopf vollkommen leer. “Grace?”
“Die Alarmanlage ist losgegangen, und sie beantwortet unsere Anrufe nicht.”
“Ich bin nur fünf Minuten von dort entfernt.” Er hatte bereits mit quietschenden Reifen gewendet. “Schicken Sie zwei Streifenwagen. Sofort!”
“Bin schon dabei. Lieutenant …”
Doch Seth hatte bereits das Telefon zur Seite geschleudert.
Sie hatte ein neues Sicherheitssystem einbauen lassen, versuchte er sich zu beruhigen, und neue Sicherheitssysteme lösten bisweilen einen Fehlalarm aus. Und sie war so sauer auf ihn, dass sie deshalb nicht ans Telefon ging. Das würde zu ihr passen. Wahrscheinlich schenkte sie sich gerade in Seelenruhe ein zweites Glas Champagner ein.
Vielleicht hatte sie den Alarm sogar selbst ausgelöst, um ihn zu zwingen, zurückzukehren. Auch das sähe ihr ähnlich. Und auch das war nur eine weitere Lüge, überlegte er, während er um die Ecke jagte, denn eigentlich sähe ihr das überhaupt nicht ähnlich.
Die Kerzen brannten noch immer in den Fenstern. Er versuchte Erleichterung zu empfinden. Das Essen war bestimmt noch warm, die Musik spielte, und Grace war da, stinksauer auf ihn. Er sprang aus dem Wagen, hämmerte aufgebracht gegen die Haustür, bis er sich endlich zusammenriss. Nein, sie würde nicht aufmachen. Sie war viel zu wütend. Als der erste Streifenwagen auftauchte, drehte er sich um und zog seine Dienstmarke. “Überprüfen Sie die Ostseite”, befahl er. “Ich kümmere mich um die Westseite.”
Er machte auf dem Absatz kehrt, rannte um das Haus herum, sah aus den Augenwinkeln das blaue Glitzern des Pools und dachte kurz, dass sie nie zusammen im Mondschein gebadet hatten.
Dann sah er das zersplitterte Glas. Sein Herzschlag setzte aus, er zückte seine Waffe und warf sich durch die zerbrochene Terrassentür. Er schrie ihren Namen, rannte in blinder Panik von Zimmer zu Zimmer. War das wirklich er? Er konnte es nicht sein, und doch stand er auf der Treppe, atemlos, ihm war eiskalt und schwindlig vor Angst. Plötzlich sah er, wie ein uniformierter Polizist ein Stück Stoff hochhielt.
“Riecht nach Chloroform, Lieutenant.” Der Officer trat zögernd einen Schritt auf ihn zu. “Lieutenant?”
Er konnte nicht sprechen. Seths Blick fiel auf das Porträt, er starrte in Graces Gesicht, und nur mit größter Anstrengung gelang es ihm, sich zusammenzureißen.
“Durchsuchen Sie das Haus. Jeden Zentimeter.” Er richtete den Blick wieder auf den Officer. “Rufen Sie Verstärkung. Sofort. Durchsuchen Sie das ganze Grundstück. Machen Sie schon!”
Grace kam mit stechenden Kopfschmerzen zu sich, eine Welle der Übelkeit überrollte sie. Sie bewegte den Kopf hin und her, dann öffnete sie vorsichtig die Augen.
Wo bin ich?, fragte sie sich benommen. Jedenfalls nicht in ihrem Zimmer. Sie kämpfte mit aller Kraft gegen die Benommenheit an, die ihre Gedanken vernebelte. Unter der Wange spürte sie Satin, sie kannte das kühle, weiche Gefühl von Satin auf der Haut. Weißer Satin, wie von einem Brautkleid. Verwirrt stellte sie fest, dass sie in einem riesigen Himmelbett lag. Es roch nach Jasmin und Rosen und Vanille, weiße Düfte, kühle, weiße Düfte. Die Wände waren elfenbeinfarben und schimmerten wie Seide. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, in einem Sarg zu liegen. Ihr Herz begann wie wild zu schlagen.
Sie setzte sich mühsam auf, befürchtete schon fast, mit dem Kopf an den Sargdeckel zu stoßen, doch da war nichts als duftende Luft. Sie atmete tief ein.
Jetzt erinnerte sie sich wieder, an das zerberstende Glas und den großen, muskulösen Mann in Schwarz. Sie spürte Panik in sich aufsteigen und zwang sich, noch ein paar tiefe, zitternde Atemzüge zu nehmen. Behutsam schob sie die Beine über den Bettrand, bis ihre Füße in dem dicken, schneeweißen Teppich versanken. Sie schwankte, musste beinahe würgen, zwang dann ihre Füße, sich über diesen weißen See bis zur Tür zu bewegen.
Als die Tür sich nicht öffnen ließ, wurden ihre Knie weich. Sie kämpfte gegen den Impuls an, an dem Türknauf aus Kristall zu zerren. Stattdessen drehte sie sich um und betrachtete den Raum, der offenbar ihr Gefängnis sein sollte.
Überall Weiß, blendendes Weiß. Ein anmutiger Queen-Anne-Sessel aus weißem Brokat, dünne Spitzenvorhänge, die vor den milchigen Fenstern hingen, elegante Möbel aus blassem Holz, Berge von weißen Kissen auf einem weißen Sofa, Goldkanten.
Sie lief zu den Fenstern, erschauerte, als sie feststellte,
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